8. Oktober 2023, 8:14 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Der Drei-Schluchten-Staudamm in China ist eines der wohl kontroversesten Bauprojekte der Menschheitsgeschichte. Denn einerseits produziert er unvorstellbare Mengen Strom, versorgt so das riesige Land mit Energie. Doch andererseits hat er das Leben von Millionen von Menschen sprichwörtlich zerstört. Und ist mittlerweile sogar für mehr Umweltkatastrophen verantwortlich, als er ursprünglich verhindern sollte.
Westlich der Stadt Yichang in Chinas Hubei-Provinz findet sich ein Mega-Bauwerk, wie es auf der ganzen Welt kein zweites gibt. Von manchen als technisches Wunder gefeiert, wird der Drei-Schluchten-Staudamm von vielen anderen als massive Gefahr für die Umwelt betrachtet. Und nicht nur das, auch hat sein Bau Leid über Millionen von Menschen gebracht. Auch wenn er pro Jahr unvorstellbare Mengen an Strom produziert, zweifelten Kritiker schon lange vor dem tatsächlichen Bau an seinem Nutzen. Seit er 2006 eingeweiht wurde, zeigt sich immer mehr, dass sie wohl in einigen gravierenden Punkten recht hatten.
Allein die nackten Zahlen um den Drei-Schluchten-Staudamm sind jedoch erst einmal absolut ehrfurchteinflößend. Seine Staumauer ist bei einer Länge von 2335 Metern bis zu 185 Meter hoch und besteht laut „Encyclopedia Britannica“ aus 28 Millionen Kubikmetern Beton und 463.000 metrischen Tonnen Stahl. Sein gewaltiges, mehr als 600 Kilometer langes Reservoir kann bis zu gut 22 Milliarden Kubikmeter Wasser aufnehmen. Das wäre „CNN“ zufolge genug, um neun Millionen Swimmingpools mit olympischen Ausmaßen zu füllen. Seine insgesamt 32 Turbinen haben zusammengenommen eine Kapazität von 22,5 Millionen Kilowatt.
Mehr als eine Million Vertriebene
Mit einer Produktion von weit über 100.000 Kilowattstunden pro Jahr ist der Drei-Schluchten-Staudamm das effektivste Wasserkraftwerk auf der ganzen Welt. Um einen vergleichbaren Output zu erreichen, müsste man beispielsweise im selben Zeitraum etwa 50 Millionen Tonnen Braunkohle verbrennen. Die Leistung des Damms ist damit so groß wie die von mehreren hocheffektiven Atomkraftwerken zusammen genommen. Dank ihm können schwere Frachter nun direkt von der Hafenstadt Shanghai mehrere tausend Kilometer ins Inland bis nach Chongqing reisen. Doch dieser vermeintliche Fortschritt, dieses technische Wunder, hatte einen sehr hohen Preis.
Laut Schätzungen verloren nämlich bis zu 1,5 Millionen Menschen ihre Heimat, damit der Drei-Schluchten-Staudamm gebaut werden konnte. Zwei Städte, 114 Dörfer und 1680 Orte entlang der einst fruchtbaren Ufer des Jangtse-Flusses, den der Damm staut, verschwanden nach und nach. Entweder sie mussten Platz machen für das Mega-Projekt, oder gingen in seinen Fluten unter. Unzählige Zwangsumgesiedelte klagen seit der Inbetriebnahme des Staudamms 2006 über massiv verschlechterte Lebensbedingungen. So kommen selbst chinesische Studien der Chinese Academy of Sciences zu dem Schluss, das Einkommen solcher Vertriebener habe sich im Schnitt um bis zu 20 Prozent reduziert. Zudem sind wohl viele Fonds, die eigentlich gedacht waren, den Staudamm-Opfern zu helfen, in undurchsichtigen Quellen versickert.
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Begünstigt der Damm Überflutungen?
Viel schlimmer wiegt aber der Vorwurf, das Projekt erfülle gar nicht seinen ursprünglichen Zweck. Denn die chinesische Regierung versprach ihrem Volk einst, der Drei-Schluchten-Staudamm könne mit seiner gewaltigen Speicherkraft Überschwemmungen verhindern. Gemeinden und ganze Regionen, die sprichwörtlich darunter liegen, sollten davon profitieren. Der Jangste, dem Volumen nach der drittgrößte Fluss der gesamten Erde, tritt nämlich in der chinesischen Regenzeit regelmäßig über seine Ufer. Das Problem ist nur, dass der Damm dieses Versprechen nicht nur nicht erfüllt, sondern mutmaßlich sogar für noch mehr Überschwemmungen sorgt. Und das sind nicht die einzigen Naturkatastrophen, für die ihn Experten verantwortlich machen.
Doch zunächst zurück zu den Überflutungen. Wie bereits beschrieben, kann der Drei-Schluchten-Staudamm die unfassbare Menge von bis zu gut 22 Milliarden Kubikmeter Wasser aufnehmen. Das Problem ist nur, dass während einer durch besonders starke Regenfälle verursachten Hochwasserperiode innerhalb von zwei Monaten hier die mehr als zehnfache Menge anfallen kann. Eine Wassermenge, die etwa dem doppelten Volumen des gesamten Toten Meeres entspricht. Und die muss natürlich irgendwo hin, also lässt man das überschüssige Wasser „kontrolliert“ in die zu Füßen des Damms liegenden Regionen ab. Das führte bereits 2020 dazu, dass laut „CNN“ in manchen betroffenen Gegenden historisch bislang nie dagewesene Hochwasser-Marken erreicht wurden.
Landrutsche und Erdbeben
Und das in einem Land, in dem regelmäßige Dammbrüche und Überflutungen bereits hunderttausende Menschen das Leben gekostet haben. Trotzdem hat kein anderer Staat weltweit so viele große Staudämme wie China. Mehr als 20.000 sind es aktuell. Doch neben den Fluten treten seit der Inbetriebnahme des Drei-Schluchten-Staudamms in der Region mittlerweile auch verstärkt Landrutsche und Erdbeben auf. Das Problem: Das massive Gewicht des Wassers hat längst begonnen, die Uferbänke des Jangtse zu erodieren. Die chinesische Regierung sah sich ob der unübersehbaren und sich häufenden Ereignisse bereits 2007 gezwungen, diesen Umstand offen einzugestehen.
Der sich stets verändernde Wasserstand im Drei-Schluchten-Staudamm verändert auch ständig den Druck auf das Gestein, was die Erosion noch begünstigt. Und so kam es bereits 2003, als das Wasserreservoir des Damms sich zum ersten Mal füllte, zu einer Katastrophe, als ein ganzes Stück von einem Berg einfach abbrach. 24 Menschen verloren dabei ihr Leben, fast 350 Häuser wurden zerstört. Ein weiteres Problem: Das Mega-Kraftwerk liegt nahe von zwei sogenannten Verwerfungslinien. Einer Region also, in der verstärkt Erdbeben auftreten können. Und genau das ist auch passiert, wiederum durch das Gewicht des Wassers und die damit verbundene Einwirkung, die bis hin zu den tektonischen Platten in der Erde reicht.
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Prestige-Projekt der Regierung
In nackten Zahlen ausgedrückt: Von 2003 bis 2009 maß man entlang des Reservoirs des Drei-Schluchten-Staudamms insgesamt 3429 Erdbeben. Im Zeitraum von 2000 bis 2003 waren es gerade einmal 94 gewesen. Zudem kommt es auch unterhalb des Staudamms zu massiver Erosion, weil das vom Yangtse getragene Sediment aus dem Wasser sich nicht mehr in den betroffenen Regionen ablagern kann. Stattdessen reichert es sich an den Staumauern an und sorgt dafür, dass das Reservoir nicht seine maximale Kapazität an Wasser aufnehmen kann. Schließlich und endlich entdeckte man bereits 2003 etwa 80 massive Risse in der Staumauer, was die Diskussionen um deren Sicherheit natürlich noch befeuerte.
Um zu verstehen, warum China eine solche Büchse der Pandora dennoch unbedingt wollte, muss man in der Zeit zurückblicken. Denn schon vor gut 100 Jahren, genauer 1919, visionierte der Staatsmann Sun Yat-sen von einem gewaltigen Damm, um den mächtigen Jangtse zu stauen. Er träumte davon, dass Wasserkraft das ganze Land versorgen sollte. Und erstellte sogar konkrete Blaupausen. Doch erst in den 1940er Jahren führte sein Nachfolger Chiang Kai-shek seine Gedanken dann weiter. Er lud unter anderem den amerikanischen Ingenieur John L. Savage nach China ein. Dieser hatte in den USA den Bau des legendären Hoover-Damms beaufsichtigt. Er entsandte sogar einheimische Ingenieure nach Amerika, aber aufgrund des Chinesischen Bürgerkriegs, der bis 1949 wütete, legte man das Projekt wiederum auf Eis.
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Akt der Auflehnung
Auch Mao Tsetung und weitere chinesische Führer träumten von dem Drei-Schluchten-Staudamm. Doch es sollte bis zum Jahr 1992 dauern, bis der Plan dafür konkrete Formen annahm. Der damalige Premier Li Peng ließ im chinesischen Parlament darüber abstimmen. Bemerkenswert war, dass ein Drittel der Abgeordneten sich klar gegen den Bau aussprachen. Im normalerweise regimetreuen China ein geradezu unerhörter Akt der Auflehnung. Es gab zudem Klagen von zahlreichen Beteiligten, man sei über die Sachlage und die technischen Details für den Bau vorab in keinster Weise informiert worden. Vor allem war man damals besorgt wegen der Folgen für die 1,4 Millionen Vertriebenen. Mehr Menschen also, als beim Bau der drei bislang größten chinesischen Dämme zusammengenommen ihre Heimat verloren hatten.
Dennoch baute man von 1994 bis 2006 an dem Damm, 2012 erreichte er zum ersten Mal seine heutige, volle Leistungsfähigkeit. Noch heute ist er das größte Wasserkraftwerk auf dem gesamten Planeten. Und ein abschreckendes Beispiel dafür, wie nah Genie und Wahnsinn bei solchen Mega-Projekten oft zusammen liegen. Viele sind bis heute der Überzeugung, dass die Kosten des Drei-Schluchten-Staudamms für Mensch und Umwelt seinen Nutzen bei Weitem überstiegen haben. Und im Zuge des Klimawandels dürften sich diese heute schon teils drastischen Probleme noch verschärfen. China sollte also besser schnell mit der Suche nach einer Lösung der Probleme von Morgen beginnen, die ihr geliebtes Prestige-Projekt bereits heute verursacht.