14. September 2017, 16:44 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Die Picardie und die bekanntere Normandie im Norden Frankreichs – hier entstand einst der Baustil der Gotik. Eines der besten Beispiele für den Stil steht in Deutschland: der Kölner Dom. TRAVELBOOK hat sich mal genauer umgeschaut im Reich der Kirchen.
Von WALTER M. STRATEN
Der Kölner Dom ist Deutschlands meistbesuchte Sehenswürdigkeit. Ein Gebirge aus Steinen und Fenstern, Türmchen und Strebepfeilern – ein Meisterwerk der Gotik. Doch der Baustil wurde nicht in Deutschland, sondern weiter im Westen erfunden. Um 1140 in Frankreich.
Nach der ersten Kirche im neuen Stil, der Abtei von Saint Denis (bei Paris), schossen die Kathedralen aus dem Boden. In Paris mit Notre Dame, in Chartres, in Reims. Vor allem in der Normandie und der Picardie, dem Norden Frankreichs. Eine Reise zu den Giganten der Gotik und Jahrhunderte zurück ins Mittelalter hat TRAVELBOOK für Sie unternommen.
Rouen – Monet, Mittelalter, Märtyrerin
Die alte Hauptstadt der Normandie ist nach den schweren Zerstörungen 1944 wieder auferstanden. „Stadt der 100 Kirchtürme“ wird sie genannt. Ganz so viele sind es nicht. Doch allein die Kathedrale Notre Dame ragt mit drei verschiedenen und gewaltigen Türmen über die Häuser und die nahe gelegene Seine. Die Wolkenkratzer-Spitze über der Vierung (wo sich Quer- und Mittelschiff kreuzen) bildet mit 151 Metern den höchsten Kirchturm Frankreichs.
In Sommernächten wird die breite Westfassade der Kathedrale zur Riesenleinwand: Mit Laserstrahlen werden dort Geschichten erzählt. Zum Beispiel von Frankreichs Märtyrerin Jeanne d’Arc („Jungfrau von Orleans“), die am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz des englisch besetzten Rouen verbrannt wurde. Oder vom legendären englischen König Richard Löwenherz, dessen Herz in der Kathedrale begraben liegt.
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Der Impressionist Claude Monet quartierte sich im 19. Jahrhundert in einem Haus gegenüber der berühmten Westfassade ein, malte sie mit ihren Türmen zu allen Tages- und Jahreszeiten in verschiedenen Farbenschattierungen. Monets Rouen-Bilder hängen heute in vielen Museen der Welt. Eines auch vor Ort im Musée des Beaux-Arts.
Rouen mit seinen Kirchen und Fachwerkhäusern strahlt noch das Flair des Mittelalters aus. Dazu passt ein spezielles Souvenir: In dem kleinen Laden „Les racines du ciel“ („Die Wurzeln des Himmels“) bieten Steinmetze Kopien von Gargouilles an. Die Fabelwesen, die hoch oben an gotischen Kirchen als Wasserspeier dienen und vor Dämonen schützen sollen.
Amien – die perfekte Kirche
Sie thront über dem Fluss Somme wie ein gewaltiges Schiff und ist das architektonische Vorbild für den Kölner Dom. Anders als am Rhein baute man in Amiens, der Hauptstadt der Picardie, die Riesenkirche zwischen 1120 und 1266 in weniger als nur 150 Jahren – aus einem Guss. Die stilistisch perfekte Kathedrale Notre Dame ist flächenmäßig die größte Frankreichs (7700 Quadratmeter) und besitzt ein doppelt so hohes Raumvolumen wie ihre Namensvetterin in Paris.
Wer sich für sechs Euro die Klettertour auf den Turm gönnt, läuft direkt an der prächtigen Fensterrose der Westfassade vorbei und spürt die Genialität des Bauwerks.
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Beauvais – die Kathedrale der Katastrophen
Endpunkt und im wahrsten Sinne des Worte Höhepunkt der Kathedralen-Tour: Beauvais! Bei Saint-Pierre ist der Mensch an seine Grenzen gestoßen. Der Bischof von Beauvais wollte es der Nachbarstadt und Rivalin Amiens zeigen: Die eigene Kathedrale sollte noch kühner werden. Die größte der Welt!
Doch kaum war der Chor, wie der hintere Teil einer Kirche genannt wird, vollendet, stürzte das Deckengewölbe 1284 zum Teil ein. Zu viel Druck auf den dünnen Mauern, zu wenige Strebepfeiler und Stützen. Der Legende nach wurde einem Strafgefangenen die Freiheit versprochen, wenn er unter Lebensgefahr die herunterhängenden Teile sichert. Er soll es geschafft haben.
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Der Chor wurde wieder aufgebaut, doch danach ruhten die Arbeiten wegen Geldmangels und Krieg bis 1500. Obwohl die Gotik bereits aus der Mode kam und aus Italien die Renaissance dämmerte, entschied der Bischof von Beauvais: Wir bauen weiter. Das südliche Querschiff erreicht 48,5 Meter lichte Höhe. Heute noch die höchste Kirche von innen – noch vor dem Petersdom in Rom.
Der Bischof wollte noch einen Weltrekord, den höchsten Kirchturm der Christenheit. Baumeister Jean Vast tat ihm den Gefallen. Ließ auf dem Kirchenschiff einen Riesen errichten, der 153 Meter erreichte.
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Kein von Menschen geschaffenes Werk kam zu jener Zeit dem Himmel näher – leider nur für vier Jahre. Die Prozession am Himmelfahrtstag des Jahres 1573 hatte die Kirche gerade durch das Südportal verlassen, als der Bau ächzte, stöhnte und innerhalb weniger Sekunden im Staub versank. Der Turm war eingestürzt, hatte Teile des Daches zerschlagen.
Nach der zweiten Katastrophe wurde die Kathedrale nicht mehr vollendet und steht nur mit einem Mini-Turm als Torso in dem kleinen Städtchen. Ähnlich wie der Kölner Dom für Jahrhunderte, bis er 1880 noch fertig wurde.
Und doch! Wer die Kathedrale von Beauvais heute betritt, ist überwältigt. Von der unfassbaren Höhe. Vom Licht, das durch die langen Fenster die Kirche flutet. Vom Können der mittelalterlichen Baumeister, auch wenn sie hier am Ende gescheitert sind. Aber grandios. Anders als beim Touristen-Magnet Notre Dame in Paris hat man die Kathedralen in der Normandie und die Picardie fast für sich. Und kann die hohe Kunst des Mittelalters in aller Ruhe genießen.