2. Oktober 2023, 10:30 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Mitten in der Brandenburger Peripherie liegt der wohl einzigartigste „Fahrstuhl“ Deutschlands. Denn das Schiffshebewerk Niederfinow transportiert zum Teil tonnenschwere Boote, und das bereits seit fast 100 Jahren. Damit ist das Monstrum aus Stahl, das seit 2022 auch einen moderneren Nachfolger hat, zu einem der größten Touristenmagneten rund um Berlin aufgestiegen. Unser Autor hat das Technikwunder besucht.
Und auf einmal ragt da, mitten aus den flachen Brandenburger Feldern, eine riesige Struktur, die aus der Ferne fast unwirklich erscheint. Weit über die Baumwipfel sichtbar erhebt sich ein gewaltiger Klotz, der mich auf den ersten Blick an einen Weltraumbahnhof erinnert. So unvermittelt ist das Schiffshebewerk Niederfinow aufgetaucht, dass ich nach etwa zehn Kilometern Wanderung vom Bahnhof Chorin aus fast ein bisschen überrascht bin. Reine Neugier hatte mich an diesem Tag zu dieser ansonsten eher langweiligen Tour getrieben, denn von dem Schiffs-Fahrstuhl hatte ich als Berliner natürlich schon oft gehört. Aber es war immer einer dieser Orte geblieben, von denen man so gerne sagt: „Da müsste man auch irgendwann mal hin.“ Und genau das mache ich jetzt endlich.
Je näher ich komme, desto beeindruckter bin ich, denn tatsächlich hat das Schiffshebewerk Niederfinow seit dem Oktober 2022 einen modernen Support bekommen. Eine zweite Schleuse, viel Beton und noch mehr Glas, um noch schwerere Kähne transportieren zu können. Als notorischer Nostalgiker verliebe ich mich aber gleich in das Original, unter dem ich nun stehe, und das tatsächlich bereits seit 1934 in Betrieb ist. In diesem Jahr wurde meine mittlerweile fast 90-jährige Oma geboren, denke ich, Wahnsinn, und es verbindet immer noch den Oder-Havel-Kanal und die Oder. Ein immenses Trumm aus 18.000 Tonnen Stahl, wie auf der offiziellen Seite des Technikwunders nachzulesen ist.
Technische Meisterleistung
Und ich habe Glück, es ist gerade Schleusenzeit im Schiffshebewerk Niederfinow. Zahlreiche Schaulustige haben sich bereits in Stellung gebracht, die Kameras im Anschlag. Denn was nun passiert, ist auch nach fast 100 Jahren immer noch an eine eigentlich unvorstellbare Meisterleistung. An 192 Stahlseilen gesichert, wird nämlich gerade ein gut 83 Meter langer, fast 4300 Tonnen schwerer Trog herab gelassen, der mit Wasser gefüllt ist. In ihm befinden sich Boote verschiedener Größe, ein Ausflugsdampfer genauso wie ein paar Kanuten. Innerhalb von nur fünf Minuten senkt sich der einzigartige Fahrstuhl jetzt 36 Meter, um sich später wieder mit anderen Wasserfahrzeugen, die in die Gegenrichtung wollen, zu heben.
Der gesamte faszinierende Vorgang dauert 20 Minuten, dann ruht das Maschinenmonster wieder für eine Weile. 94 Meter lang ist es, 27 Meter breit und 52 Meter hoch. Für damalige Verhältnisse war das Schiffshebewerk Niederfinow ein nie dagewesenes technisches Wunder, für das nur acht Jahre Bauzeit vonnöten waren. Schon als 1914 der Oder-Havel-Kanal in Betrieb ging, hatte es seit mehreren Jahren Überlegungen für den Schiffs-Fahrstuhl gegeben. Stattdessen baute man aber erst einmal eine Schleusentreppe mit insgesamt vier Kammern, die jeweils einen Höhenunterschied von neun Metern überwinden konnten. 1924 beschloss das damalige Reichsverkehrsministerium dann aber doch den Bau des Hebewerkes am Standort Niederfinow.
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Von den Nazis als Symbol missbraucht
Bereits 1926 begannen hier die Bauarbeiten. Mittels 300 Bohrungen wurde vorher der Baugrund zunächst genaustens untersucht. Die zehn Meter tiefe Baugrube musste regelmäßig von Grundwasser befreit werden. Außerdem richtete man eine Baustellenbahn und eine Fährverbindung ein, um die benötigten Materialien liefern zu lassen. Wie der „RBB“ berichtet, entstanden auch Steinbrüche, ein Wohnkomplex für die Arbeiter und sogar ein Kraftwerk zur Energiegewinnung. Im März 1934 erfolgte dann ein mehrtägiger erfolgreicher Testbetrieb, am 21. März 1934 schließlich weihte man das Schiffshebewerk Niederfinow feierlich ein.
Leider missbrauchten die Nationalsozialisten diesen historischen Tag für ihre Propaganda, Rudolf Heß persönlich reiste als Vertreter von Hitler an. Der selbsternannte Führer befand sich an diesem Tag beim ersten Spatenstich für die Reichsautobahn A1 bei Bremen. Und schon im Eröffnungsjahr erfüllte das Schiffshebewerk Niederfinow seinen Zweck voll und ganz. Konnte man zuvor 600.000 Gütertonnen Fracht jährlich über den Oder-Havel-Kanal transportieren, waren es nun stolze 2,8 Millionen Tonnen. Das rechtfertigte dann wohl auch die astronomischen Kosten von knapp 28 Millionen Reichsmark. Die Bombardierung des Dorfes Niederfinow überstand der Gigant nahezu unbeschadet.
So besichtigen Sie die Anlage
Bis heute hat das Schiffshebewerk Niederfinow nur an etwa 50 Tagen seinen Betrieb nicht versehen können. Und auch bei meinem Besuch funktioniert alles reibungslos. Die Bootsbesitzer in dem mächtigen Trog winken den Schaulustigen zu wie Royals. Die an Land Gebliebenen wie ich haben aber die Möglichkeit, die weitläufige Anlage und beide Hebewerke zu Fuß zu erkunden. Eintrittskarten gibt es im modernen Besucherzentrum, Erwachsene zahlen aktuell fünf Euro, Familientickets gibt es für 15 Euro für zwei Eltern mit bis zu drei Kindern. Wer jünger als sieben Jahre als ist, kommt umsonst rein. Die geführte Tour, bei der man auch die modernere Super-Schleuse von innen besichtigen kann, kostet aktuell für Erwachsene 12 Euro.
Ich entscheide mich an diesem Tag für die einfache Besichtigung, denn ich möchte das Schiffshebewerk Niederfinow nur für mich und mit meinem ganz eigenen Tempo erkunden. Infotafeln auf dem Weg zu den Giganten hoch erzählen die Geschichte des Ortes und der Region, die bereits 1605 mit dem Bau des Finowkanals durch den Brandenburger Kurfürsten Joachim Friedrich begann. Und dann ist es plötzlich ganz ruhig, die Welt da unten in gut 50 Metern Höhe sehr weit weg. Im Wasser des zur Schleuse führenden Kanals gründeln riesige Rotfeder-Fische, am Himmel ein paar Vögel. Sonst keine Geräusche außer meinen respektvollen Schritten.
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Ein Hauch Brandenburger BER
Dafür ist der Ausblick auf den unter mir liegenden Oderbruch und den Barnim wahrhaft gigantisch. Nichts verstellt in der flachen Landschaft den Blick, die Oder scheint sich durch ihre Niederungen bis zum Horizont zu winden. Träge liegt der Stahlgigant am frühen Nachmittag nun da, dabei ist er täglich von 6 bis 22 Uhr in Betrieb. Von den 150.000 Menschen, die das Schiffshebewerk Niederfinow jährlich besuchen, bin ich momentan der einzige hier oben. Und dann zieht es mich doch noch einmal zu der moderneren Anlage, die erst am 4. Oktober 2022 in Betrieb ging. Ein Hauch Brandenburger BER hier, denn eigentlich sollte sie nach der Grundsteinlegung 2009 schon 2014 starten, doch es kam immer wieder zu Verzögerungen und technischen Problemen.
Auf lange Sicht soll das neue aber schon bald das alte Schiffshebewerk Niederfinow ganz ersetzen. 2025, so der Plan, soll für das Technikdenkmal endgültig Schluss sein. Seinen 100. Geburtstag 2034 erlebt es dann wohl bereits im Ruhestand. Aktuell ist es das älteste Schiffshebewerk in ganz Deutschland, das immer noch in Betrieb ist. Die Rahmendaten um die modernere Anlage sind natürlich auch schlicht beeindruckend. Sie ist 133 Meter lang, gut 46 Meter breit und mehr als 54 Meter hoch, und kann in ihrem Trog eine Traglast von bis zu 2300 Tonnen transportieren. Und damit mehr als doppelt so viel wie ihr Vorgänger. Dafür hat sie aber auch stolze 520 Millionen Euro gekostet.
Auffällig ist an diesem Nachmittag, dass der ganze Ort sehr gut von seinem Schiffshebewerk Niederfinow zu leben scheint. In den frühen Abendstunden unternehme ich eine Wanderung durch das Dorf zum Bahnhof. Und entdecke dabei mehrere Restaurants, alle sehr gut besucht, Hotels und eine Brauerei. Die örtliche Schnapsdestillerie verkauft ihre Produkte gar im Luxus-Kaufhaus KADEWE, wie man mir nicht ohne Stolz erzählt. Ich fahre schließlich mit dem guten Gefühl nach Hause, das sich einstellt, wenn man an bei einem Ausflug mehr findet, als man ursprünglich erwartet hätte. Und der Vorfreude auf alle anderen Orte, von denen ich bislang immer nur gesagt habe: „Da müsste man auch irgendwann mal hin.“