19. September 2019, 13:45 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Das Künstler-Paar Ella & Pitr spezialisiert sich auf riesige Graffiti-Bilder. Ihr neuestes Werk bricht einen Rekord in Europa und hat eine politische Botschaft. TRAVELBOOK hat mit den Sprayern gesprochen.
Das größte Street-Art-Mural Europas ist unsichtbar. Zumindest, wenn man daran vorbei geht. Das Kunstwerk vom französischen Streetart-Duo Ella & Pitr befindet sich auf dem Dach des Expo-Pavillons 3 im Süden von Paris: Nur von oben wird das riesige Werk, dass mit 25.000 Quadratmetern Fläche so groß wie vier Fußballfelder nebeneinander ist, wirklich sichtbar: Ein alte Frau blickt schläfrig auf eine stark befahrene Autobahn und zeigt mit dem Finger auf die winzig wirkenden Autos. Über ihr weht eine rot-weiß gestreifte Plastiktüte in den Himmel. Die Frau blickt direkt auf den Boulevard Périphérique: Der Straßengürtel, der das reiche Paris vom armen Paris trennt.
„Wir bevorzugen als Motive alte, müde Menschen.“
„Quel temps fera-t-il demain“ heißt das Mural. Zu Deutsch: Wie wird das Wetter morgen sein? TRAVELBOOK hat das Künstlerpaar gefragt, was die Inspiration hinter dem riesigen Kunstwerk ist: „Die ältere Dame erinnert uns an unsere eigene Großmutter, an ihre Gewohnheiten aus einer Zeit, in der das Leben nicht so schnell war wie heute. Sie blickt auf all diese Autos und die Menschen, die überall hin eilen. Wir wollen keine süßen, lächelnden Kinder malen, um die Realität hinter einem bunten Mural zu verbergen. Das wäre uns zu dekorativ. Wir bevorzugen als Motive alte, müde Menschen. Sie haben etwas Schweres an sich, sie sind wie Steine in dieser zu schnellen Welt. Sie erscheinen uns ehrlicher.“
Und die Plastiktüte? Sie taucht in mehreren Werken von Ella & Pitr auf. „Die Plastiktüte repräsentiert unsere Gesellschaft. Sie ist furchtbar und poetisch zu gleich.“ Im Gegensatz zu der echten Plastikverschmutzung der Erde, die wir oft nicht sofort sehen können oder nicht sehen wollen, ist die Tüte auf dem Gemälde auch noch vom Himmel sichtbar, sagen die Künstler TRAVELBOOK. „So wollen wir Aufmerksamkeit auf die Verschmutzung unseres Planeten ziehen.“ Für das Mural sprayten Ella & Pitr acht Tage lang jeden Tag zwölf Stunden gemeinsam mit Freunden und freiwilligen Helfern. Sie benötigten 150 Liter Farbe. Mit der Größe des Murals übertrafen sie nur sich selbst: 2015 hatten sie den damaligen Rekord für das größte Street-Art-Werk Europas in Norwegen mit dem 21.000 Quadratmeter großen Piece „Llith und Olaf“ aufgestellt.
Wie kann man das Kunstwerk ohne Drohne besichtigen?
Auch in ihren anderen Werken setzen sich die Künstler mit Menschen auseinander, die es in allen Städten gibt, aber in unserer Gesellschaft abgehängt oder ausgegrenzt werden: Obdachlose, Senioren und Personen, die einfach nicht den gängigen Schönheitsidealen entsprechen. Meistens stellen die Künstler die Personen in ihren Bildern schlafend dar: Wenn sie am unvorteilhaftesten und verletzlichsten aussehen. Doch das neuste Kunstwerk der beiden wird nicht lange existieren: Bereits 2022 soll der Pavillon, auf dem das Bild der Dame gesprayt wurde, abgerissen werden. Wer das Bild bis dahin mit eigenen Augen sehen möchte, muss mit dem Fahrstuhl auf das Parkhausdach des höher liegenden Gebäudes Pavillon 7, dem Convention Center der Expo fahren: Von dort aus hat man einen guten Ausblick auf das Mural. Der Eintritt ist kostenlos.