22. Juli 2024, 6:02 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Unter den Straßen voller Leben, Lärm und Sonnenlicht birgt Süditaliens pulsierende Metropole eine mysteriöse Unterwelt, ein ganzes Labyrinth voller Geheimnisse. Auf ihrer Entdeckungstour ist TRAVELBOOK-Autorin Anna Löhlein ist hinabgestiegen in Neapels verborgene Tiefen und berichtet, wie sie die zeitlose Welt der Katakomben erlebt hat.
Auf meiner Rundtour durch Italien besuche ich zum ersten Mal Neapel und finde mich an einem Ort wieder, der in vielerlei Hinsicht einfach fantastisch ist. Mit ihrem ebenso morbiden wie herzlichen Charme hebt sich die berüchtigte Hafenstadt von allen anderen italienischen Metropolen ab, die ich auf dieser Reise besuche.
Alles hier ist ein bisschen lauter, schmutziger, quirliger. Neapel ist zum Verlieben. Die meisten Autos auf den Straßen haben sichtbare Unfallschäden – während man hierzulande damit direkt in die nächste Werkstatt fahren würde, nimmt der Neapolitaner sie stoisch hin. Solange das Auto nur (schnell) fährt! Notdürftig geflickte Hauswände und fehlende Gehwegplatten gehören ebenso zum Straßenbild wie provisorisch anmutende Stromkabelkonstruktionen und längst verwitterte Votivbilder. Wer baut schon für die Ewigkeit, am Fuße eines aktiven Vulkans?
Hinab in die Katakomben von Neapel
Gestärkt mit einer frittierten Pizza tauche ich ab in die neapolitanische Unterwelt – selbstverständlich nicht auf einen Chianti mit der Camorra, sondern in die echten unterirdischen Katakomben. Über Katakomben verfügen viele Städte, etwa Paris mit seinem riesigen unterirdischen Beinhaus, London und Berlin punkten mit gruseligen Geisterbahnhöfen und auch Moskau besitzt sagenumwobene Systeme tief unter der eigentlichen Stadt.
Was Neapels Unterwelt jedoch so besonders macht, ist die Vielfalt – und im wahrsten Wortsinn „Vielschichtigkeit“ – ihrer Nutzung. Das Netzwerk aus Höhlen, Gängen und Tunneln diente seit seiner Entstehung vor mehr als 2000 Jahren ganz unterschiedlichen Zwecken: Hier waren und sind kultische Stätten und Friedhöfe, aber auch Zisternen und Kanäle, Fluchtwege, Luftschutzbunker, Zufluchtsorte und sogar eine „Endstation“ für Oldtimer. Ich entscheide mich für einen Besuch in den größten und bekanntesten Katakomben der Stadt, den Katakomben von San Gennaro.
Benannt nach Neapels Schutzpatron
Mein Weg dorthin beginnt an einem himmelnahen Ort, nämlich bei der Kirche del Buon Consiglio im Sanità-Viertel am Fuße des Capodimonte-Hügels. Direkt hier befindet sich der Zugang zu den Katakomben von San Gennaro. Der berühmteste Schutzpatron Neapels, San Gennaro (zu Deutsch der Heilige Januarius), lebte um 300 n. Chr. Da seine erste Grabstätte in diesem Abschnitt des unterirdischen Neapels liegt, wurden die Katakomben hier der offiziellen Webseite zufolge nach ihm benannt.
Dieser frühe Raum wurde später erweitert, eine ganze unterirdische Basilika und unzählige weitere Grabstätten kamen im Laufe der Jahrhunderte hinzu. Der weiche, gelbliche Vulkan-Tuffstein bot eine ideale Bausubstanz für die Gebäude der Stadt. Praktischerweise hatte man das Baumaterial direkt vor der Haustür. Das Gestein ist leicht zu behauen, wiegt nicht viel und wirkt sowohl bei Hitze als auch Kälte isolierend. So ging der Ausbau der unterirdischen mit dem Aufbau der oberirdischen Stadt einher.
Die unterirdische Basilika aus dem 5. Jahrhundert ist in ihrer Größe beeindruckend – wer würde ein ganzes Kirchenschiff unter der Erde erwarten? In dem großen Raum befindet sich eine Art Thron, der Bischofsstuhl, und der Altar, in welchem ein Loch den Gläubigen einst den Blick auf die Gebeine des Schutzpatron freigab – alles wie für die Ewigkeit in Stein gehauen. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Basilika immer mehr ausgebaut und erweitert, zum Beispiel um die Basilika des Heiligen Agrippinus und die Krypta der Bischöfe. Durch die Beisetzung weiterer Heiliger und Bischöfe wurde dieser Ort zu einer bedeutenden Pilgerstätte des frühen Christentums.
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Ruhe für die Toten, Zuflucht für die Lebenden
Weiter geht die Führung auf der unteren Ebene der Katakomben. Durch ihre Lage am Fuße eines Hügels liegen beide, das obere und das tiefere Höhlensystem, insgesamt nicht allzu weit unter der Erde, sondern sie wurden eher flach unter die Oberfläche gegraben. So gelangen wir von außen über ein paar Stufen hinab in einen Höhlenraum mit einem imposanten Taufbecken. Dieses wurde im Auftrag eines Bischofs in den Fels gehauen, der dort im 8. Jahrhundert zusammen mit anderen Gläubigen Schutz vor den in der Stadt tobenden Kämpfen suchte. Ein früher Beweis dafür, dass in den Katakomben von Neapel nicht nur die Toten Ruhe, sondern auch die Lebenden einen Zufluchtsort fanden.
In einem Labyrinth der Zeitlosigkeit, mit Kreuzgängen, Abzweigungen, Nischen und Kammern, erstreckt sich eine „Stadt der Toten“. Unzählige Grabstätten im Fels und Fresken an den Wänden. Einige dieser Malereien gehören zu den ältesten frühchristlichen Darstellungen Italiens. So zeigt zum Beispiel das Grab der Familie Theotecnus (6. Jahrhundert) ein Fresko, in dem die Tochter, die als Kind verstarb, als kleines Mädchen dargestellt ist. Mit dem Tod eines jeden weiteren Familienmitgliedes wurde das alte Bild übermalt und das neue Familienmitglied hinzugefügt. Sozusagen eine Familiengeschichte in Schichten.
Überhaupt sind die Wände der Katakomben reich mit Bildern und Mosaiken verziert, zu denen der Tourguide interessante Geschichten zu berichten weiß. So strahlt diese unterirdische Begräbnisstätte eine erstaunliche Lebendigkeit aus. Von den Gräbern der Wohlhabenden mit Fresken und gemauerten Bögen unterscheiden sich die einfachen Grabstätten sehr, es sind lediglich in die Wände und den Boden gehauene Kuhlen. All die Grabstätten passierend, werden die Räume nach und nach größer und ausgedehnter, die Architektur lässt fast vergessen, dass man sich in einer Höhle befindet.
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Kein Gefühl der Enge in den Katakomben von Neapel
Wir erreichen die Basilika Sant’Aggripino, einen frühchristlichen Sakralraum aus dem 4. Jahrhundert. Spannend ist, dass dieser Höhlensaal noch heute für religiöse Zeremonien und Messen genutzt wird. So vereinen sich hier Tot und Leben am selben Ort. Und noch etwas anderes fällt positiv auf und entspricht so gar nicht meinen Vorstellungen von einem Ausflug unter die Erde: Nirgendwo in den Gewölben fühle ich Enge oder Beklemmung. Die Räume sind luftig und an einigen Stellen fällt sogar Tageslicht ins Dunkel.
Dennoch zieht es mich nach fast zwei Stunden in der Tiefe zurück an die Sonne, ins ganz und gar lebendige Neapel. Mit einem Gefühl von Faszination und Ehrfurcht im Gepäck nehme ich mir vor, bei meiner nächsten Reise in diese Stadt am Vulkan wieder abzutauchen, um weitere unterirdische Highlights zu erkunden. Und während ich meine Schritte wieder aufs heiße Pflaster setze, hallt eine Erinnerung wider an die kühle, verborgene Welt viele Meter tief unter meinen Füßen.