13. Januar 2023, 19:01 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Seit dem Brexit 2020 liegt der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union in Deutschland. Genauer gesagt auf einem Acker in Gadheim, einem Ortsteil der bayerischen Gemeinde Veitshöchheim. Was hat sich seitdem dort verändert? TRAVELBOOK hat nachgefragt.
Es passiert wohl nicht allzu oft, dass eine auf der Bühne der ganz großen Politik getroffene Entscheidung nur ein kleines Stück Deutschland direkt betrifft. In Gadheim, einem Ortsteil der bayerischen Gemeinde Veitshöchheim, geschah in am 1. Februar 2020 jedoch genau das. Als zu diesem Datum der Brexit offiziell wurde, richteten sich plötzlich alle Augen auf den nur sieben Kilometer von Würzburg entfernten Fleck. Denn plötzlich, sprichwörtlich über Nacht, war dieser der neue geografische Mittelpunkt der Europäischen Union.
„Unser Bürgermeister erfuhr davon erst bei einer Autofahrt aus dem Lokalradio“, so eine Sprecherin der Tourismusagentur von Veitshöchheim zu TRAVELBOOK. Da quasi bis zur letzten Minute über den Brexit, also den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, verhandelt worden sei, habe es auch keine großen Vorbereitungen auf das Ereignis gegeben. Ohnehin ist es geografisch gesehen ein Zufall, dass Gadheim nun der neue Mittelpunkt Europas ist.
Mittelpunkt der EU wird immer neu ermittelt
Denn dieser wird immer wieder ermittelt durch das Institut national de I’information géographique et forestiére (IGN). Mit jedem Bei- bzw. Austritt eines EU-Mitgliedes verschiebt sich logischerweise auch der geografische Mittelpunkt des Staatengefüges. So wanderte die Landmarke in den vergangenen Jahren über Frankreich und Belgien nach Deutschland. In Gadheim haben sie am exakten Mittelpunkt einen Findling hingestellt, dazu ein paar Fahnen und Infotafeln, das war’s. Bescheidenheit auf bayerisch, Koordinaten 9°54’07“ östliche Länge, 49°50’35“ nördliche Breite.
Der Ort habe sich durch den „Gewinn“ des EU-Mittelpunktes auch sonst kaum verändert, so die Tourismus-Sprecherin. „Die Anzahl der Touristen im Ort hat sich dadurch jedenfalls nicht merklich erhöht. Die Gegend ist aber sehr beliebt bei Wanderern und Radfahrern, und so wird auch der Mittelpunkt bei solchen Touren vermehrt angesteuert.“ Besonderes Marketing habe man daher erst gar nicht betrieben, denn es sei ja ohnehin in den Medien groß über Gadheim berichtet worden.
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Ein bisschen Mittelpunkt-Stolz in Veitshöchheim
Ein bisschen stolz ist man im Ort dann aber doch auf die geografische Ehre. So gibt es in Veitshöchheim seit Sommer 2020 einen „Mittelpunktwein“, einen Müller-Thurgau von den örtlichen Hängen zu kaufen. Im September 2022 ist noch ein Mittelpunktbrand dazugekommen. Auch gibt es laut der Sprecherin gelegentlich Veranstaltungen am Mittelpunkt, der übrigens auf einem landwirtschaftlich genutzten Feld liegt. Die Broschüren zu dem besonderen Ort sind in mehreren Sprachen erhältlich. Direkte Einnahmen habe Gadheim aber durch die Mittelpunkt-Marke nicht.
Trotzdem seien die Menschen hier stolz auf „ihren“ Rekord. „Die Bewohner freuen sich darüber. Der Punkt gilt als Sinnbild für das vereinte Europa, dem sich die Gemeinde und ihre Bürger unter anderem über mehrere Partnergemeinden in den Nachbarländern von jeher verbunden fühlen.“ Auch schon vor dem 1. Februar 2020 lag der geografische der Europäischen Union übrigens in Bayern. Und zwar in der Gemeinde Westerngrund im Landkreis Aschaffenburg. Sechseinhalb Jahre hielt man hier die Marke, die 2014 sogar innerhalb des Ortes einmal wanderte. Damals wurde das französische Übersee-Département Mayotte als der EU zugehörig anerkannt, der Mittelpunkt verschob sich daraufhin innerhalb von Westerngrund um 500 Meter.
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Gut vorbereitet auf die Zeit danach
Und so ist man auch in Veitshöchheim darauf vorbereitet, dass die Marke nicht ewig in Gadheim verbleiben wird. Sorgen macht man sich hier allerdings deshalb nicht um die Zukunft des hiesigen Tourismus. Durch die Nähe zu Würzburg kämen, auch zu Wasser, viele Tagestouristen, die die örtliche Gastronomie sowie die Lage im Weingebiet schätzten. „Veitshöchheim ist seit jeher ein beliebter Ausflugsort – Sommersitz der Würzburger Fürstbischöfe, mit einem kleinen Schloss, und bedeutendem Hofgarten. Es ist einer der besterhaltenen Rokokogärten Deutschlands und Europas.“
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Bis Gadheim also seinen „Titel“ wieder abgeben muss, sieht man sich hier gut aufgestellt. Davon zeugen auch Besuche von Politikern wie Martin Schulz sowie anderen Land- und Bundestagsabgeordneten. Auch kirchliche Würdenträger und lokale Größen wie die örtliche Weinbaukönigin waren schon da. Wie viele Touristen denn der Mittelpunkt nun genau dem kleinen Ort gebracht habe, messe man daher auch gar nicht erst. „Aber man beobachtet an dem Punkt fast immer jemanden, wenn man vorbeikommt.“
Mögliche Kandidaten für einen EU-Beitritt sind aktuell laut der Seite des Auswärtigen Amtes unter anderem Albanien, Bosnien und Herzegowina sowie der Kosovo und Nordmazedonien. Außerdem könnten im Zuge einer EU-Erweiterung Montenegro und Serbien dazu kommen. Auch ein Beitritt der Türkei ist weiterhin in der Schwebe. Und so wird auch der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union wieder wandern. In Gadheim macht man sich deswegen keine schlaflosen Nächte.