24. Juni 2022, 10:47 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Am Wochenende geht das erste und gleichzeitig bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands, Nordrhein-Westfalen, in die Sommerferien. Experten rechnen zu Ferienbeginn mit unsäglichen Zuständen, die sich an anderen Flughäfen in den kommenden Wochen ähnlich darstellen dürften – und das übrigens schon seit rund einem Jahr. TRAVELBOOK schildert die Probleme.
Nordrhein-Westfalens größter Flughafen, Düsseldorf, erwartet zum Ferienbeginn von Freitag (24. Juni) bis Sonntag über 200.000 Passagiere. Und der Flughafen Köln/Bonn rechnet während der Ferien mit 1,75 Millionen Reisenden, was rund 86 Prozent des Vorkrisenniveaus entspricht. In den verkehrsreichsten Zeiten würden damit wieder fast so viele Passagiere abgefertigt, wie vor der Corona-Pandemie, erklärte Flughafenchef Thomas Schnalke der dpa Mitte der Woche.
Das Problem: Nach Angaben der Flugverkehrswirtschaft fehlen laut Bundesverkehrsministerium in allen Bereichen rund 2000 Mitarbeiter. Die Flughafenbetriebsräte schätzen den Gesamtbedarf bundesweit sogar auf 5500 Kräfte. Für Urlauber sind somit in diesen Sommerferien stundenlange Wartezeiten beim Check-in und an den Sicherheitskontrollen programmiert. Dies abzuwenden, ist kaum noch möglich – aus verschiedenen Gründen.
Verdi warnte schon vor einem Jahr vor bevorstehendem Chaos
TRAVELBOOK hat über die massiven Probleme an den Airports, die noch schlimmer zu werden drohen, mit Verdi-Bundesfachgruppenleiter Sven Bergelin gesprochen. „Was wir derzeit erleben ist ein Chaos mit Ansage“, so sein Urteil. Denn die Gewerkschaft habe bereits vor rund einem Jahr davor gewarnt, dass ein Restart „selbst mit nur mit 50 Prozent des Volumens“ kaum zu bewältigen ist. Trotzdem: Die Fluglinien hätten nicht reagiert, sich nicht gefragt, was passiert, wenn das Reisen wieder anläuft. Wie man die Flugbegleiter wieder zurückholen, sprich nachschulen kann, deren Lizenzen durch die langen flugfreien Monate im Zuge der Pandemie abgelaufen sind. Bergelin: „Wir werfen dem Management Versagen vor.“
„Jetzt rächen sich 20 Jahre Lohndumping“
Es fehlt den Flughäfen allerorten an Mitarbeitern, um den Ansturm der Urlauber – speziell zu Ferienbeginn – reibungslos zu bewältigen. Von der Passagierkontrolle über die Flugzeugabfertigung bis hin zu den Flugbegleitern, überall mangelt es an Personal. Denn viele frühere Flughafen- und Airline-Mitarbeiter haben sich in der Pandemie, als kaum noch Flugzeuge abhoben, andere Jobs gesucht. Ein großer Teil von ihnen laut Bergelin in der Logistikbranche. „Dort sind die Löhne und die Arbeitszeiten besser“, so der Gewerkschafter, „die bekommt man nicht mehr zurück.“ Seit Jahren bereits fordert Verdi für das Lufthansa-Bodenpersonal eine Lohnerhöhung. Die Tarifverhandlungen mit der Lufthansa beginnen am 30. Juni. Bergelins Einschätzung nach rächen sich gerade 20 Jahre Lohndumping im Luftverkehr.
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Versuche, die Engpässe zu kompensieren
Zwar bemühen sich alle Beteiligten um Schadensbegrenzung. Der Flughafen Köln/Bonn etwa hat zusätzliches Personal für die Abfertigung eingestellt. Um die langen Schlangen am Düsseldorfer Flughafen zu verkürzen, kündige die Bundespolizei Verstärkung für die Sicherheitskontrollen an. Es sei ein zweiter Dienstleister gefunden worden, der rechtzeitig zum Ferienbeginn am Freitag drei zusätzliche Kontrollspuren übernehmen werde. „Wir hoffen, dass dies zur Entzerrung der Situation beiträgt“, so Bundespolizeisprecher Jens Flören, „besonders zu den Spitzenzeiten.“ Der Flughafenbetreiber Fraport in Frankfurt will angesichts der Personalengpässe sogar Mitarbeiter aus der Verwaltung bis hin zum Vorstand bei der Abfertigung einsetzen.
Um es erfolgreich zu schaffen, „kurzfristig für Entspannung zu sorgen, wäre es mit Blick auf die nächsten Wochen eine sinnvolle Maßnahme, wenn die Bundespolizei mit eigenen Kräften unterstützt“. Das erklärte Jost Lammers, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Flugannullierungen wegen hohem Krankheitsstand
In den Tagen vor dem Ferienstart häuften sich bei der Lufthansa-Tochter Eurowings an den beiden größten NRW-Flughäfen Düsseldorf und Köln die Flugabsagen. Ein Grund dafür sei ein unerwartet hoher Krankenstand, sagte eine Unternehmenssprecherin. Auch Eurowings sei vom aktuellen Anstieg der Corona-Infektionen nicht verschont geblieben. Bereits Anfang Juni hatten Eurowings und ihr Mutterkonzern Lufthansa wegen Personalmangels für Juli 900 Flüge gestrichen.
„Die ganze Branche kämpft mit extrem hohen Krankenquoten von über 20 Prozent“, bestätigt auch Verdi-Sprecher Bergelin gegenüber TRAVELBOOK. Bei der Lufthansa lägen sie sogar bei rund 25 Prozent. Gut möglich also, dass es auch hier vermehrt zu Flugannullierungen kommt.
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Tipps für Reisende
Der Flughafenverband ADV rät Flugreisenden angesichts der zu erwartenden Verzögerungen bei der Abfertigung, mindestens zweieinhalb Stunden vor Abflug am Flughafen zu sein. Noch besser: sofern möglich, am Vorabend einchecken und am besten mit möglichst wenig Handgepäck reisen. Der Luftverkehrsexperte Özay Tarim von der Gewerkschaft Verdi macht den Urlaubsreisenden wenig Hoffnung auf rasche Besserung: „Warteschlangen sind schon vor Ferienbeginn der Normalzustand an den Flughäfen geworden. Jetzt kann es nur noch um Schadensbegrenzung gehen.“