27. Juni 2022, 10:47 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Verspätete oder annullierte Flüge, Abfertigungschaos – an den Flughäfen läuft es nicht rund. Für Reisende ist das natürlich ärgerlich. Aber: Auch für die Mitarbeiter an Bord und das Bodenpersonal der Flughäfen gab es schon rosigere Zeiten, und das ist mehr als milde ausgedrückt. TRAVELBOOK hat mit einer Flugbegleiterin einer großen deutschen Airline gesprochen.
Selten waren die Deutschen so hungrig auf Urlaub wie in diesem Sommer. Das Problem: Auch die Tourismusbranche hat die pandemiebedingten Einbrüche zu spüren bekommen, sodass der große Andrang auf einen extremen Personalmangel trifft. Das Ergebnis ist ein unsägliches Durcheinander an den Flughäfen, vom Check-in über die Gepäckabfertigung bis hin zur Verpflegung an Bord. Urlauber sind natürlich genervt. Leider bekommen das diejenigen ab, die am wenigsten dafür können, und doch unter der Situation besonders leiden. TRAVELBOOK hat mit einer Flugbegleiterin über das Ausmaß des Chaos gesprochen, wie sie es in ihrem Arbeitsalltag erlebt.
Flugbegleiterin über Personalmangel im Luftverkehr – und die Folgen
Michelle P.* ist Flugbegleiterin bei einer großen deutschen Airline. Ihrer Ansicht nach ist das Problem mit dem Personalmangel ein hausgemachtes. Denn: „Wir hätten eigentlich genug Kollegen, wären sie denn im aktiven Arbeitsverhältnis.“
Die Erklärung hängt mit den beiden vergangenen Corona-Jahren zusammen. Michelle P. selbst ist in dieser Zeit noch relativ häufig geflogen, „also ein- bis zweimal im Monat“. Dagegen mussten Kollegen mit Teilzeitverträgen im Zuge der Kurzarbeit zu Hause bleiben, mit der Folge, dass ihre Lizenzen abgelaufen sind. Um wieder fliegen zu dürfen, müssten sie geschult werden. Jedoch fehlt es seit Wiederaufnahme des Betriebs in allen Bereichen der Luftfahrt an Personal, so auch an Schulungskapazitäten.
„Es sind katastrophale Verhältnisse“
Der extreme Notstand an Kabinenpersonal, das auf die nun extrem aufgestockten Flugverbindungen eingesetzt werden kann, wird sehr notdürftig kompensiert: Weniger Kollegen müssen mehr Arbeit leisten. „Es sind katastrophale Verhältnisse“, berichtet und die Flugbegleiterin, „das totale Chaos. Langstreckenflüge gehen unterbesetzt raus, aber die Maschinen sind voll.“ Vor allem fehle es an Pursern, also an Besatzungsmitgliedern in Führungsposition. „Die Armen fliegen sich den Hintern wund“, schildert Michelle P.
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Zu viele Bereitschaftsdienste, zu wenig Gehalt
Doch für alle Mitglieder der Crew bedeuten die hohen Anforderungen im Moment ständige Bereitschaftsdienste. „Wir werden an unseren freien Tagen angerufen, dass wir arbeiten müssen.“ Dabei wären Ruhezeiten in ihrem Job wichtig.
Hinzukommt, dass Michelle P., wie viele andere Flugbegleiter auch, auf Nebenverdienste angewiesen sind. Trotz der steigenden Inflation und Mehrarbeit bleibt ihr Gehalt nämlich gering. Doch da es bei den Flugdienstplänen ständig zu Änderungen kommt, lassen sich auch die Einsätze beim Nebenjob nur schwer planen.
Chaos durch hohen Krankheitsstand
Ein wesentlicher Grund für die ständig wackeligen Flugdienstpläne sei der hohe Krankheitsstand generell bei den Airlines. Darüber hat TRAVELBOOK auch mit Verdi-Bundesfachgruppenleiter Sven Bergelin gesprochen. Die gesamte Branche kämpfe mit hohen Krankheitsquoten, bei der Lufthansa läge sie bei 25 Prozent. Die Gewerkschaft fordert generell eine stärkere Thematisierung des Gesundheitsschutzes des Bordpersonals, beispielsweise verbesserte Technologien, um etwa die gesundheitliche Belastung durch Kerosindämpfe in der Kabine zu reduzieren.
Im Moment steckten hinter den meisten Krankheitsfällen weiterhin Corona-Infektionen. „Fast auf jedem Flug kommt die Benachrichtigung, dass ein Kollege wegen eines positiven Tests ausfällt“, bestätigt Michelle P. aus der Praxis.
Viele Fluggäste lassen Ärger am Personal aus
Chaos hin oder her, die Flugbegleiterin und ihre Kollegen an Bord sind stets bemüht, bei Laune zu bleiben – auch der Kabinenservice ist schließlich Teil ihres Jobs. Die Fluggäste reagieren auf Unannehmlichkeiten jedoch mitunter ungehalten. „Sie beschweren sich sehr über Verspätungen“, so die Flugbegleiterin. Das kann sie sogar verstehen. Denn gerade die Airline, bei der sie angestellt ist, sei unter normalen Umständen für günstige Flugzeiten bei Connection-Flügen bekannt. Wenn es aber, wie aktuell so oft, zu großen Verspätungen kommt, werden Anschlüsse verpasst. „Wir bekommen dann den Frust ab.“
Weiterer Wut-Faktor: Die Mundschutzmaske
„Und dann ist da noch das leidige Thema mit den Masken“, erzählt Michelle P. TRAVELBOOK. So reagierten Fluggäste zunehmend genervt und mit Unverständnis, wenn man sie darauf hinwies, ihre Mundschutzmaske wieder aufzuziehen. Tatsächlich herrscht diesbezüglich ein gewisses Chaos, berichtet die Flugbegleiterin: In manchen Ländern darf, in anderen muss man die Maske tragen.
Zwar sind Maschinen ihrer Airline offiziell deutsches Hoheitsgebiet, so Michelle P. Theoretisch gelte daher – wie in Bus und Bahn auch – weiterhin das Infektionsschutzgesetz. Um aber Auseinandersetzungen zu vermeiden, sind die Mitarbeiter inzwischen dazu angehalten, deeskalierend zu agieren, sprich die Regel nicht mehr durchzusetzen.
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Der Frust ist groß – aber die Liebe zum Job größer
So anstrengend es zurzeit auch sein mag, Michelle P. liebe das Fliegen über alles. Ein Gefühl, das sie mit ihren Kollegen teile. „Genau das ist die Bredouille, in der wir uns immer wieder befinden, weswegen wir das Ganze mitmachen.“ Die Flugbegleiter versuchten, alle Missstände auszubügeln, und hielten ihren Kopf als „Blitzableiter“ hin. Sie verzichten auf ihre Ruhezeiten, um den Personalmangel so gut es geht auszugleichen, und üben sich in Resilienz. „Wir gehen momentan so stark an unsere Grenzen wie nie zuvor“, versichert Michelle P., und das alles in der Hoffnung, dass es wieder besser wird. Denn noch viel schlimmer als jetzt sei es gewesen, als in den Jahren 2020 und 2021 am Flughafen Friedhofstimmung herrsche. „Das werde ich nie vergessen. Da kamen einem echt die Tränen.“
Trotz allem sind Michelle P. und ihre Kollegen froh, ihre Flüge zurückzuhaben. Nun wäre es schön, wenn sie an ihrem (für uns alle so wichtigen) Job auch wieder Spaß haben dürften.
* Name von der Redaktion geändert, die Insiderin möchte anonym bleiben