14. Oktober 2016, 15:53 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Der englische Fotograf Jimmy Nelson reist in die abgelegensten Orte dieser Welt, um indigene Völker und Stämme zu porträtieren, die zum Teil isoliert vom Rest der Welt leben. Ob in Kenia, Nepal, Papua-Neuginea oder in der Mongolei, in Sibirien oder Äthiopien: Nelson zeigt sie auf wunderschönen Fotos in stolzen Posen. Mit TRAVELBOOK sprach er darüber, wie er die Urvölker ausfindig macht, wie er sich mit ihnen verständigt und in welche Länder er als nächstes reist.
Die meisten Bilder hängen schon, als ich Jimmy Nelson in der Berliner Galerie Camera Work treffe. Am 15. Oktober wird hier seine Ausstellung „Before they Part II“* eröffnen. Es ist die Fortsetzung seines bislang größten und erfolgreichsten Fotoprojekts „Before They Pass Away“, für das Nelson an die entlegensten Orte dieser Welt gereist ist, um indigene Völker und Stämme zu porträtieren. Um uns von ihrer Existenz zu unterrichten, um auf sie aufmerksam zu machen, aber auch, um selbst von ihnen zu lernen, wie er sagt.
Wie wenig wir über jene Menschen wissen, die teilweise in Stämmen noch so leben, sprechen, jagen, Essen zubereiten, sich kleiden und ihre Kinder erziehen, wie es ihre Vorfahren bereits vor Hunderten Jahren getan haben, wird in dem Moment deutlich, in dem es um die politisch korrekte Bezeichnung geht. Indigene Völker beschreibt Ureinwohner. Und ein Stammes-Volk lebt laut der Terminologie des Vereins „Survival International“ größtenteils autark und ist nicht in die Mehrheitsgesellschaft integriert. (Wer mehr darüber erfahren möchte, findet eine detaillierte Begriff-Erklärung und Abgrenzung hier.)
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10 Länder in 10 Monaten
45 bedrohte Kulturen hat Jimmy Nelson in den vergangenen Jahren fotografiert. Fotos der zehn Völker, die er alleine in diesem Jahr fotografiert hat, sind nun in Berlin zu sehen. Dafür reiste der 48-jährige Engländer in jedem Monat an einen anderen Ort, plante zwei Wochen für An- und Abreise ein und blieb je zwei Wochen bei den Menschen vor Ort. Seine Reisen führten ihn zum Beispiel nach Hakahau, einem Dorf auf der Insel Ua Pou im Norden der Marquesas-Inseln in Französisch-Polynesien oder zu den Miaos im Westen der chinesischen Provinz Guizhou.
Was er von seinen Reisen mitbringt, sind Fotos von Menschen in ihre schönsten Roben, in Fest-Kleidung oder Jagd-Ausrüstung, mit Waffen, Schmuck und Speeren. Nelson inszeniert sie wie Modelle auf Kampagnenbildern, stolz, ehrfürchtig und wunderschön.
Doch bis es so weit ist und die für ihn anfangs völlig fremden Menschen vor der Kamera posieren, vergehen Tage, Wochen und teils sogar Monate. Nelson muss sich immer wieder neu vor ihnen beweisen, mit ihnen weinen, trinken, lachen – und manchmal auch Spott über sich ergehen lassen.
»Ich habe keine Angst
Nelson hat fast die ganze Welt gesehen – auf eine Art und Weise, wie es wohl keiner vor ihm getan hat. Er zählt nicht die Länder, in denen er war, für ihn geht es einzig und allein um das Erlebnis, die Erfahrung, wie er sagt.
Angst hat er bei all seinen Reisen nicht gehabt. Besucht er einen Stamm, so unterwirft er sich den Menschen, damit sie ihm vertrauen. Um das zu verdeutlichen, setzt er sich gleich zu Beginn unseres Treffens auf den Boden, imitiert einen Hund, zeigt mir, wie er sich den Fremden annähert, ihnen das Gefühl gibt, großartig zu sein – und das, ohne ihre Sprache zu sprechen. Erst fasst er an meinen Knöchel, an meine Schulter, will, dass ich gerade sitze, dreht dann mein Gesicht zur Seite, ich soll nach oben blicken. Schon sieht man stolz aus, sagt Nelson. „Jeder auf der Welt mag das.“
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Interview mit Jimmy Nelson
TRAVELBOOK: Herr Nelson, wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen, wie finden Sie die Menschen, wie nehmen Sie Kontakt auf?
Jimmy Nelson: „Man findet sie, indem man neugierig ist, indem man Bücher liest, sie online findet, sich unterhält. Das ist einfach. Zu ihnen Kontakt aufzunehmen, wenn man erstmal da ist, ist wiederum schwierig – aber interessant. Man hat ja keinen Übersetzer. Was genau passiert, weiß ich also nicht, bis ich da bin. Weil die Menschen sich durch mich etwas eingeschüchtert fühlen, lasse ich sie als erstes größer fühlen. Du musst ihnen die Kontrolle geben, die Macht, dich zu treten. Das ist wie bei einem Hund, der dich kennenlernen will. Er macht sich klein, legt sich manchmal auf den Rücken und zeigt dir so, dass du der Boss bist.
Sobald sie aufhören, dich im übertragenen Sinne zu treten, fängst du an, sie zu berühren. Erst an einer niedrigen Stelle, dann geht man ganz langsam immer höher. Man sagt Dinge wie ‚Wow, deine Muskeln. Du bist so stark. Setz‘ dich gerade hin. Mach‘ dein Haar zurück. Guck‘ nach oben. Du bist so wunderschön.‘ In dem Moment führt man sich auf wie Mister Bean, aber: Wo auch immer du auf der Welt bist und ganz gleich, mit wem du das machst, Menschen mögen das.“
TRAVELBOOOK: Wie lange dauert es, bis sie es zulassen, fotografiert zu werden?
Nelson: „Es dauert Tage, manchmal auch Wochen, bis ich mit dem eigentlichen Fotografieren beginne. Es braucht Zeit, Respekt, Achtung, Verletzbarkeit und Leidenschaft.“
TRAVELBOOK: Wie läuft das Shooting ab?
Nelson: „Ich schaue in die Kamera, fokussiere die Menschen durch die Linse, lobe sie. Irgendwann brauche ich Hilfe, vor allem mit dem Licht, also beziehe ich das ganze Dorf mit ein. Ich gebe jedem im Dorf einen Reflektor. Sobald das Licht auf den Fotografierten fällt, ist er stolz. Das ist es, was am Ende das Foto ausmacht. Was danach passiert, ist, dass jeder im Dorf ein Foto will.
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TRAVELBOOK: Gab es ein indigenes Volk, das nicht fotografiert werden wollte?
Nelson: „Der einzige Stamm, der nicht ‚Ja‘ gesagt hat, waren die Aborigines in Australien. Es ist kompliziert, es geht um Politik, Geschichte und Missverständnisse. Ich werde es weiterhin versuchen, aber es braucht Zeit.
TRAVELBOOK: Sie sind zu vier Völkern und Stämmen bereits zurückgekehrt, haben ihnen Ihre Fotos gezeigt. Wie war das?
Nelson: „Als ich damals die Fotos gemacht habe, haben sie sie nicht gesehen, weil ich analog fotografiert hab. Ich wollte auch nicht, dass sie sie direkt sehen, ich wollte, dass unsere Bindung unbefangen ist. Es ging um zwischenmenschlichen Kontakt. Und viele Menschen wussten nicht, was ein Foto ist.“
TRAVELBOOK: Wie haben sie reagiert?
Nelson: „Aufgeregt – mit jeder Menge Emotionen, ein wenig irritiert. Dann war da Anerkennung. Sie haben sich bedankt, dass ich gekommen bin. Ich war zwar nicht der erste, der sie fotografiert hat, aber ich war der erste, der zurückgekehrt ist, um ihnen die Fotos zu zeigen.“
TRAVELBOOK: Was haben die Menschen, die Sie treffen, was wir nicht haben? Was können wir von ihnen lernen?
Nelson: „Oh, sie haben einen Reichtum, der nicht materiell ist, sondern vielmehr körperlich. Sie sind physisch stark, sie haben Wissen, sie sind authentisch, individuell, sie leben im Jetzt und nicht wie wir in der Zukunft. Sie fühlen alles, was mit der Umwelt zu tun hat, sie leben in der Natur und sie haben einen angeborenen Stolz.“
TRAVELBOOK: Haben Sie davon etwas adaptiert?
Nelson: „Was wir [seine Familie, Anm. d. Red.] versuchen, ist, besser zu essen, uns besser zu fühlen, körperlich mehr aktiv zu sein. Wir versuchen, mehr im Jetzt zu sein. Es geht darum, sich persönlich reich zu fühlen und nicht zu denken, dass es das neue Auto ist, das einen reicher macht. Das ist kompliziert und es ist hart. Aber ich denke, man kann den Lebensstil adaptieren.“
TRAVELBOOK: Welche Länder bereisen Sie als nächstes?
Nelson: „Im Dezember reise ich hoffentlich nach Pakistan, im Januar nach Sibirien.“
TRAVELBOOK: Und wo würden Sie eines Tages gerne mal hin?
Nelson: „Ich würde gerne viel mehr Zeit im Amazonas-Gebiet verbringen. Aber es ist sehr schwer, dort hinzukommen.
TRAVELBOOK: Ist es noch ein Traum oder schon ein Plan dort hinzureisen?
Nelson: Ein Plan. Was ich träume, muss ich auch tun.
* Jimmy Nelson, Before They Part II ist vom 15. Oktober bis 19. November 2016 in der Camera Work (Kantstraße 149, 10623 Berlin) zu sehen. Öffnungszeiten: Di-Sa von 11 – 18 Uhr. Eintritt frei. Am 15. Oktober findet ein Artist Talk sowie eine Signierstunde mit dem Fotografen statt.