8. Februar 2016, 9:55 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Wir ernähren uns von Wurst und Bier, sind zwanghaft pünktlich, humorlos und kaltherzig – viele Klischees über die Deutschen sind alles andere als schmeichelhaft. Aber werden wir wirklich so gesehen? Was sagen Ausländer, die schon seit Jahren in Deutschland leben? Wir haben nachgefragt.
„Du bist so deutsch!“ Das bekommt Agnieszka Kowaluk, Münchner Autorin des gleichnamigen Buches, oft zu hören. Dabei ist sie Polin. Eine von 7,6 Millionen Ausländern, die laut Ausländerzentralregister in Deutschland leben. Genau wie Julio Rodriguez, Grafikdesigner aus Mexiko und seit zwei Jahren Berliner. Beide hatten bestimmte Vorstellungen von „den Deutschen“, als sie herzogen – und wurden seitdem oft überrascht. „Typisch deutsch“: Was ist das heute eigentlich? Neue Antworten auf fünf alte Klischees.
Klischee 1: Die Deutschen ernähren sich von Bratwurst, Bier und Kartoffeln
Dass der Ausdruck „Kartoffelmutter“ im Film „Türkisch für Anfänger“ ein Schimpfwort für Deutsche sein soll, erscheint Agnieszka Kowaluk doppelt absurd. Erstens weil die Knolle – wie Sauerkraut, Wurst und Bier – auch die polnische Küche bestimmt und somit nicht „typisch deutsch“ ist. Zweitens kann sie an der Kartoffelzubereitung westlich der Oder nichts Schlimmes finden.
Dank ihrer deutschen Schwiegermutter habe sie die Sättigungsbeilage sogar erst richtig als eigene Delikatesse entdeckt, schreibt sie in ihrem Buch und schwärmt von Kartoffelsalat, Quark- und Rosmarinkartoffeln und Reibekuchen. Und von germanischem Dosen-Sauerkraut, das sie sogar als Geschenk exportiert. Julio Rodriguez äußert sich hingerissen von der Currywurst – und von Paulaner-Bier, wie er zögernd gesteht: „Hier gebe ich das aber selten zu, weil die Berliner dann immer so ungläubig gucken.“
Fazit: Klischee stimmt und schmeckt.
Klischee 2: Die Deutschen sind kalt, unfreundlich und rücksichtslos
„Vollkommener Unsinn!“, sind sich die Befragten einig. „Als ich herkam, war ich von der Freundlichkeit der Leute überrascht“, erzählt Julio Rodriguez, „ich muss sagen, dass ich im Vorfeld auch Angst vor Rassismus hatte. Das Bild vom Deutschen als Nazi ist in Mexiko noch verbreitet.“ Er habe aber nur gute Erfahrungen gemacht.
„Die Deutschen sind sehr nett und hilfsbereit, sogar in einer Großstadt wie in Berlin. In Mexiko-Stadt sind die Menschen viel distanzierter“, sagt er und erzählt von seinem letzten Besuch in der mexikanischen Hauptstadt: „Ich habe versucht, unterwegs Geld klein zu wechseln und keiner hat mir geholfen! In Berlin wäre das kein Problem gewesen. Die Leute sind hier nicht so ängstlich und desinteressiert.“
Agnieszka Kowaluk hatte hohe Erwartungen an die „gute Kinderstube“ der Deutschen, skurrilerweise ein positives Klischee im höflichen Polen (während die Deutschen anderswo, beispielsweise in Großbritannien, als ungehobelt gelten). Daher überraschte sie die floskellose Direktheit der Teutonen, wenn sie zum Beispiel einer bepackten Dame im Bus ihren Platz anbot und dafür nur ein schlichtes „Nein“ erntete. Oder ein „Hoppla“ statt „Entschuldigung“, wenn sie umgerempelt wurde.
Auch ein „Danke“ sei in Deutschland nicht immer eine Selbstverständlichkeit, gibt sie zu. Aber: Dekor sei nicht das Wichtigste. Freundlichkeit könne man auf verschiedene Weise zeigen – und die erfahre sie in Deutschland reichlich.
Fazit: Klischee widerlegt. Möglicherweise nur aus Höflichkeit?
Klischee 3: Die Deutschen sind humorlos und steif
Auch dieses Urteil halten die Befragten für „Quatsch“. Agnieszka Kowaluk glaubt, dass es aus einem Missverständnis der Ernsthaftigkeit entstanden sein könnte, die viele Deutsche an den Tag legen. „Das heißt aber nicht, dass sie humorlos sind! Im Gegenteil, ich schätze ihren oft trockenen Witz und die Selbstironie“, sagt sie und fügt mitfühlend hinzu: „Die Deutschen müssen aber auch viel ertragen, was ihren Ruf angeht.“
Als der englische Komiker Rowan Atkinson alias „Mr. Bean“ den Deutschen in einem Interview mit Bunte.de einen „guten Sinn für Humor“ bescheinigte, sorgte er damit für Schlagzeilen im deutschen Blätterwald. Dabei schrieb schon der gnadenlose Mark Twain, Autor des Essays „Die schreckliche deutsche Sprache“, in seinem berühmten „Bummel durch Europa“:
„Wie sind wir nur auf die Idee gekommen, die Deutschen seien ein stures, phlegmatisches Volk? Tatsächlich sind sie weit davon entfernt. Sie sind warmherzig, gefühlvoll, impulsiv, begeisterungsfähig, beim zartesten Anstoß kommen ihnen die Tränen, und es ist nicht schwer, sie zum Lachen zu bringen.“
Fazit: Klischee stimmt nicht. Oder war das alles ironisch gemeint?
Klischee 4: Die Deutschen sind fleißig, sparsam und effektiv
Agnieszka Kowaluk findet die deutsche Sparsamkeit sympathisch, „weil sie kein Ausdruck von Geiz ist, sondern von Effektivität und Rationalität. In Polen würde man nie ein einzelnes Ei kaufen, in Deutschland schon – wenn man eben nur eines braucht.“ In Polen bestünde nach Jahren des Mangels noch Nachholbedarf im Konsumieren, in Deutschland mache man sich inzwischen eher Gedanken um Nachhaltigkeit und bemühe sich, nichts zu verschwenden.
Fleiß hingegen sei keine exklusiv deutsche Eigenschaft, auch wenn die Erkenntnis, dass die Polen ebenfalls arbeitsam sein können, für viele noch neu und überraschend sei. Dass den Deutschen Fleiß traditionell als typische Tugend zuerkannt würde, sei aber berechtigt, finden die Befragten. „In Mexiko herrscht die Vorstellung, dass die Deutschen deshalb so reich sind, weil sie viel arbeiten. Sie gelten auch als hochqualifiziert. Berühmt sind die deutschen Ingenieure“, erzählt Julio Rodriguez. Agnieszka Kowaluk findet es bemerkenswert, dass die Deutschen sogar ihre Freizeit mit Fleiß gestalten.
Fazit: Klischee stimmt. Weitermachen. Aber zackig!
Klischee 5: Die Deutschen lieben Ordnung und halten sich an Regeln
Diese preußischen Tugenden fallen Julio Rodriguez auf Anhieb ein – und das, obwohl er in Berlin lebt, wo nach Meinung der Deutschen (inklusive der Berliner) blankes Chaos herrscht. „Die Deutschen haben viele Regeln und halten sich daran. Deswegen funktioniert hier alles. Das ist doch gut“, sagt er, „es fängt mit den Verkehrsregeln an. Versuchen Sie mal, in Mexiko-Stadt über die Straße zu gehen! Lebensgefährlich.“
Die viel beklagte deutsche Bürokratie sei „ein Klacks im Vergleich zu der in Mexiko.“ Jammern auf hohem Niveau sei auch die oft zitierte Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn: Die Deutschen seien es einfach gewohnt, dass alles tadellos klappt. Eine kaputte Rolltreppe gebe einem hierzulande „das Gefühl, ein Survivor im Zivilisationsdschungel zu sein“, witzelt auch Agnieszka Kowaluk. Die teutonische Liebe zu Regeln findet sie „wohltuend“: „Ordnung vereinfacht das Leben.“
Allerdings beobachtet sie auch eine gewisse „deutsche Laxheit“, eine Rebellion gegen Regeln im Geiste der 68er, eine zur Schau getragene Nachlässigkeit und Unpünktlichkeit. „Da wünsche ich mir dann oft mehr Spießigkeit.“
Fazit: Klischee stimmt in der Regel. Könnte aber noch ordentlicher geregelt sein!
Internationale Umfrage Umfrage verrät die Könige des Urlaubsflirts
TRAVELBOOK macht den Fakten-Check 5 Dinge, die man laut „Lonely Planet“ wissen sollte, bevor man nach Deutschland reist
Hoffentlich merkt es keiner! Die dunklen Urlaubs-Geheimnisse der Deutschen
Das Fazit
Hier lebende Ausländer scheinen eine bessere Meinung über die Deutschen zu haben als wir über uns selbst – und selbst dafür gibt es Lob: „Das mögen wir ja an den Deutschen, dass sie kritisch mit sich sind. Diese Vorsicht, die sicher auch aus ihrer Geschichte herrührt“, sagt Agnieszka Kowaluk. Dazu passt der Untertitel ihres Buches: „Mein Leben in einem Land, das seine Tugenden nicht mag“.
Und vielleicht auch nicht alle kennt: Weltoffenheit und Kontaktfreudigkeit seien ebenfalls „typisch deutsch“, sagt die Autorin: „Als Ausländerin habe ich hier oft das Gefühl, dass sich die Menschen für mich interessieren, gerade weil ich von woanders herkomme.“
(mgr)
Buch-Tipp: „Du bist so deutsch! – Mein Leben in einem Land, das seine Tugenden nicht mag“ von Agnieszka Kowaluk, Riemann Verlag, 16,99 Euro