10. August 2017, 16:53 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Kims Eltern sind von Vietnam nach Deutschland ausgewandert. Sie selbst ist mit ihrem Freund von Deutschland nach Vietnam ausgewandert. Schluss mit dem ganzen Stress, den Erwartungen, den Überstunden, dem Verkehr. Sie trotzten deutschen Zweiflern und eroberten die Herzen Vietnams. Eine Liebesgeschichte zweier Auswanderer, die nichts anders machen würden, außer vielleicht eines: „Schon früher die Koffer packen“.
Kim-Loan Nguyễn und Michael Kredics sind in Stuttgart aufgewachsen, mitten im optimierungsorientierten Sparland der Republik. Ihre Eltern stammen aus Vietnam und sind als junge Erwachsene nach Deutschland ausgewandert – für ein stabiles, sicheres Leben. Kim ist mit Werten wie Fleiß und Leistung groß geworden: „Arbeite hart, nur dann wird auch was aus dir“, sagte ihr Vater immer.
Doch dann war es das Paar selbst, das ausgewandert ist, und zwar von Deutschland nach Vietnam – für ein entspanntes, erfülltes Leben. Vor allem Kims Vater hatte starke Zweifel und konnte diese Entscheidung nicht nachvollziehen. „In einem Jahr bist du eh wieder da“, lautete seine Prognose.
Vom Bett direkt in den Obstgarten
Das eine Jahr ist vorbei. Kim ist nicht wieder zurückgekehrt. Michael auch nicht. Im Gegenteil: Die beiden sind in dem kleinen Küstenort An Bang in der Mitte des Landes so richtig angekommen und haben sich Dezember 2015 mit „The Happy Vietnam Community“ selbstständig gemacht. In ihrem Hostel „The Hoi An Hippie House“ finden Traveller bunt bemalte Wände, eine Veranda mit Hängematte und eine Matratzen-Lounge. In dem Bed & Breakfast „The Happy Bird“ bietet das Auswandererpaar Bungalows und lässt auf der Terrasse die heißen Sommertage mit einem kühlen Hanoi Bier ausklingen. Bei ihrem Gästehaus „The Full Moon Beach House“ fallen die Bewohner vom Bett in einen selbst angebauten Obst- und Gemüsegarten.
Kim und ihr Noch-Nicht-Ehemann stehen morgens vor ihren Gästen auf, bereiten das Frühstück vor, helfen bei der Planung von Aktivitäten und Ausflügen, kümmern sich um An- und Abreise, organisieren neue Buchungen und tauschen sich mit ihren Nachbarn aus. Nachmittags und abends haben sie meistens frei und gestalten ihre Zeit ganz ohne Großstadttrubel oder Medienflut. Wenn die beiden einkaufen fahren, schwingt sich Kim hinter ihrem Partner auf das schwarz-gelbe Motorrad und sie steuern ausschließlich lokale Adressen an, denn: „Wir geben uns jeden Tag Mühe, unser Umfeld mitzunehmen. Wir kaufen unser Toilettenpapier bei einer Nachbarin, die Eier bei der anderen, die Tomaten bei einer anderen. Jeder soll etwas davon haben. Das ist uns wichtig“, sagt Michael zu TRAVELBOOK.
Was ihnen sonst noch wichtig ist und welcher Weg hinter ihnen liegt, verraten Kim und Michael im Interview:
TRAVELBOOK: Wann stand für euch fest, dass ihr unbedingt weg müsst?
Michael Kredics: „Wir wussten beide schon lange, dass wir weg wollten, raus aus Deutschland. Und Vietnam haben wir beide zusammen das erste Mal erlebt, als wir zur Beerdigung von Kims Großmutter hingeflogen sind. Vietnam war anders. Vietnam war geil. Ich war sofort angefixt.“
Aber Kim ist doch Vietnamesin, also kannte sie das Land schon.
Michael: „Kim ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, sie ist also Deutsche mit vietnamesischen Wurzeln. Sie und ihre Geschwister sind mit der Überzeugung aufgewachsen: `Vietnam ist ein fernes Land, das nicht so toll ist, Deutschland ist viel besser‘. So hatte Kim auch gar keinen Bezug zu Vietnam.“
Kim-Loan Nguyễn: „Die Ironie ist: Ich habe meine Wurzeln in Vietnam erst dann so richtig kennengelernt, als ich selbst dorthin ausgewandert bin.“
„Es gab überraschend viele Zweifler“
Was habt ihr davor gemacht?
Michael: „Ich habe Eventkaufmann für Freizeit und Tourismus gelernt und mich von Anfang 2010 bis Ende 2014 in einer Kommunikationsagentur hochgearbeitet. Dazu war ich am Wochenende Barkeeper in einem Club und habe noch versucht, ein Modelabel aufzubauen.“
Kim: „Ich war Physiotherapeutin und bereits seit zehn Jahren in dem Beruf. Ich wollte einfach nicht bis 67 arbeiten, auf große Reisen verzichten, sondern einfach mal was Neues ausprobieren. Was ganz anderes. Vor allem selbstständig zu sein, war mein Wunsch.“
Wie fühlt es sich an zu entscheiden, sein Zuhause zu verlassen und ein ganz neues Leben aufzubauen?
Kim: „Ich war am Anfang schon wehmütig. Ich bin Deutsche, ich mag Deutschland sehr und habe nie woanders gelebt. Daher war das Loslassen echt schwierig und ich habe auch ein bisschen gebraucht, bis ich wirklich verstanden hatte, was dieser Schritt bedeutet. Aber als der Punkt erreicht war, habe ich mich total frei gefühlt – frei von Last und fremden Erwartungen. Ich wusste: `Jetzt ziehen wir das hier durch und machen aus der Geschichte, aus unserer Geschichte, einen Erfolg!’“
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Michael: „Es war schwer, zum finalen Entschluss zu kommen, da habe ich lange mit mir gerungen. Letztendlich spricht das ja gegen unsere deutsche Erziehung, also ein Risiko einzugehen, Sicherheit hinter einen zu lassen und was ganz Neues in einem fremden Land zu machen. Aber als es dann klar war, habe ich sofort eine unglaubliche Erleichterung gespürt und hatte einhundert Prozent Vertrauen in die Sache.“
Wie haben Freunde und Familie reagiert?
Kim: „`Seid ihr verrückt?‘ war die häufigste Reaktion und mein Umfeld hat nicht wirklich daran geglaubt. Mittlerweile haben sich alle damit angefreundet, weil sie sehen, wie gut es uns tut.“
Michael: „Es gab überraschend viele Zweifler. Mit vielen von denen habe ich nichts mehr zu tun, denn das war für mich auch ein Anlass auszusortieren. Mein Umfeld heute steht komplett dahinter und das macht mich stolz.“
„Er hat mit dem Messer zwischen den Zähnen auf mich gewartet“
Wie hat Kims Vater reagiert, als er erfuhr, dass sie mit einem deutschen Mann nach Vietnam geht?
Michael: „Ich bin ein paar Monate vor Kim nach Vietnam gegangen. Als Kim nachkommen wollte, bin ich nach Stuttgart geflogen, um sie abzuholen. Sie wollte nicht alleine fliegen und es war mir wichtig, ihren Vater kennen zu lernen und sie zu begleiten, wenn sie diesen Schritt macht. Es war im Film: Er hat mit dem Messer zwischen den Zähnen am Küchentisch auf mich gewartet und mich zwei Tage lang gegrillt. Wir haben gestritten und uns gegenseitig angebrüllt: `Sie ist meine Tochter, ich liebe sie!‘ und ich schrie zurück: ´Ich liebe sie aber auch!‘ Nach zwei Tagen gab er uns seinen Segen. Seitdem verstehen wir uns echt gut, er hat uns auch schon besucht und unterstützt uns bei dem, was wir hier tun.“
Was ist der größte Unterschied zu eurem früheren Leben?
Kim: „Freiheit. Ich tue jetzt das, was ich liebe und kann meinen Tag so gestalten, wie ich es mag. Und ich bin endlich mit meinem Mann zusammen, wir haben Zeit füreinander, die uns nicht durch Überstunden oder unnötigen Stress genommen wird.“
Michael: „Freiheit. Selbstbestimmung. Keine Zwänge mehr. Und vor allem: Deutlich mehr fröhliche Menschen um uns herum, die Spaß am Leben haben.“
In welchen Momenten zweifelt ihr an eurem Weg? Was vermisst ihr am meisten?
Michael: „Für Zweifel haben wir keinen Platz in unserem Leben. (lacht) Wir vermissen das gute deutsche Essen! Piratenbrötchen, Maultaschen und Mamas Küche. Und deutsche Weihnachten, das ist einmalig.“
Wie sehr fühlt ihr euch dazugehörig?
Kim: „Wir sind Locals. Wir hängen fast nur mit Vietnamesen ab, haben vietnamesische Freunde. Obwohl hier auch einige Ausländer leben, halten wir uns viel lieber an Einheimische.“
Ihr seid erfolgreiche und glückliche Auswanderer, das schaffen nicht viele. Was macht ihr anders?
Kim: „So abgedroschen dass jetzt auch klingen mag: Geld war nie und ist nicht unsere Motivation. Was uns wirklich antreibt und belohnt, ist, in die glücklichen und zufriedenen Gesichter unserer Gäste zu schauen. Das ist pure Wertschätzung – dafür stehen wir jeden Tag auf. Wir wollten immer hier ankommen, voll dabei sein, voll integriert sein und dafür tun wir jeden Tag sehr viel.“
Michael: „Vor allem aber verstehen wir uns als Botschafter Vietnams und wollen, dass jeder erlebt, wie toll dieses Land, diese Kultur und vor allem seine Menschen sind. Als Ausländer hast du immer das Risiko, alles zu verlieren und das geht verdammt schnell hier. Gerade deswegen ist meiner Meinung nach die menschliche Komponente das Wichtigste überhaupt, um in einer fremden Kultur anzukommen und aufgenommen zu werden. Viele Locals waren skeptisch und es hat Zeit – und einige Biere – gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Ohne die Akzeptanz der Einheimischen hast du keine Chance.“
Harte Arbeit ist wichtig – Perfektion erst recht
Hilft es, Deutscher zu sein?
Michael: „Es gibt ein Zitat, das bringt es ziemlich auf den Punkt: ´Gott gab uns Europäern die Uhr und allen anderen die Zeit.‘ Die Dinge laufen hier etwas gemächlicher, also muss man immer dahinter sein. Was das angeht, sind wir nicht mehr so ganz hardcore-deutsch und einfach lockerer geworden. Aber organisatorisch gesehen sind wir immer noch sehr deutsch, harte Arbeit ist wichtig und Perfektion erst recht. Auch bei The Happy Vietnam Community.“
Warum Vietnam? Was hat das Land, was andere Länder nicht haben?
Kim: „Meine Wurzeln sind vietnamesisch, die Menschen hier sehen so aus wie ich und ich kann die Sprache.“
Michael: „Mich beeindrucken die Gastfreundschaft und der Zusammenhalt hier immer noch jeden Tag. Ich liebe die Vietnamesen. Einfach tolle Menschen.“
Welche Schwierigkeiten gibt es, mit denen ihr im Alltag umgehen müsst?
Michael: „Wenn es zu trocken ist, bekommen meine Bananenbäume zu wenig Wasser. (lacht) Und Gäste, denen man es partout nicht recht machen kann. Das kommt aber zum Glück nur selten vor.“
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Die „German Angst“
Viele Menschen, die euch erleben, sagen begeistert: „Boah, das würde ich auch am liebsten machen.“ Wieso tun sie es dann doch nicht?
Michael: „Das frage ich sie auch immer und höre oft, es sei noch zu früh. Sie haben andere Verpflichtungen, aber mal im Ernst: Wann haben wir das nicht? Ich glaube, viele haben auch Angst vor diesem Schritt. Angst vor dem Scheitern. Angst, nicht mehr zurück zu können in ihr altes Leben. Ich denke, vieles ist von diesen schlechten Serien à la ´Goodbye Deutschland – die Auswanderer´ geprägt. Die zeigen da fast nur Holzköpfe, übertreiben maßlos und zielen voll auf Drama und Voyeurismus ab. Letztendlich gibt es die Bezeichnung ´German Angst´ nicht umsonst.“
Wieso wird eurer Meinung nach das Bedürfnis in westlichen Gesellschaften immer größer, aus dem Alltag auszubrechen, auszuwandern, alles anders zu machen?
Michael: „Wir sind eine unglaublich aufgeklärte Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, wir können weit über den Tellerrand hinausblicken. Und ich denke, dass die Aussicht auf 40 bis 50 Jahre Arbeit in einem kapitalistischen System, was auf Ausbeutung basiert, nicht das ist, womit ein Teil der Gesellschaft sein Leben verbringen will. Denn dieses Leben ist endlich, irgendwann ist es vorbei. Und zurückblickend will wohl keiner sagen: Ich habe meine Zeit verschwendet oder in den Dienst von etwas Schlechtem gestellt.“
Also seid ihr hier, weil ihr etwas Gutes tun möchtet?
Michael: „Genau – weil’s das Richtige ist. Das Leben hier ist richtig. Was wir tun, ist richtig. Und der Strand natürlich: Leben am Strand ist das Beste!“
Kim: „Weil das Leben hier einfach besser ist. Es ist nicht so weit entwickelt wie in Deutschland, es ist einfacher, puristischer. Und hier können wir unser Umfeld viel mehr unterstützen, für die Menschen einen Unterschied machen. Kleine Dinge haben hier eine viel größere Wirkung.“
Am Schluss haben wir die beiden noch gefragt, welche Eigenschaften ein jeder mit sich bringen sollte, der in ein Land wie Vietnam auswandern möchte. Diese Frage haben wir ihnen getrennt voneinander gestellt. Ihre Antworten sind fast identisch – da haben sich wohl zwei im richtigen Land (wieder)gefunden.
Michael: „Mut, Zuversicht, Geduld.“
Kim: „Vertrauen, Willensstärke, Mut.“
Ganz anders als die meisten Auswanderer tummeln sich Kim und Michael nicht unter Expats oder anderen Ausländern. Sie suchen im Fernöstlichen nicht das Westliche. Sie vermissen keine Luxusprobleme, Griesgrämer oder Meckertanten. Sie sind genau da, wo sie sein wollen. Und glücklich.