1. Mai 2020, 7:49 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
Er erlebte derart fantastische Dinge, dass viele Menschen vermuteten, er habe sie schlichtweg erfunden: Marco Polo gilt als einer der größten Reisenden aller Zeiten und legte mit seiner Beschreibung fremder Länder und Kulturen den Grundstein für zahllose Entdeckungen und Expeditionen.
Es ist das Jahr 1295, als sich im Gefängnis von Genua zwei Männer begegnen: Der eine von ihnen ist ein bekannter Schriftsteller, der andere ein Händler aus einer wohlhabenden venezianischen Familie. Was dieser nun dem Schreiber erzählt, klingt derart fantastisch, ja sprichwörtlich märchenhaft, dass er sofort mit der Niederschrift beginnt.
Da ist die Rede von großen Abenteuern, von einer mehr als 20 Jahre dauernden Reise, durch Länder wie die Türkei, Afghanistan, den Iran, China, Vietnam, Malaysia, Sumatra, Sri Lanka und noch zahlreiche andere. Von einem Leben im Dienst des legendären Mongolen-Herrschers Kublai Khan, von Prinzessinnen und Kriegern und unendlichen Reichtümern. Der Händler, der ihm diese Fabeln erzählt, wird von vielen bald Il Milione gerufen werden, doch sein wahrer Name ist heute wesentlich bekannter: Marco Polo.
Als die gesammelten Abenteuer wenig später unter dem Titel „Die Beschreibung der Welt” (später „Die Reisen von Marco Polo”) erscheinen, wird das Buch laut „Biography” schnell das meistverkaufte in ganz Europa, übersetzt sowohl ins Italienische, Französische und Latein, Marco Polo zu einer Art Superstar seiner Zeit. Doch seine detaillierten und überbordenden Beschreibungen fremder Kulturen dienen den Menschen nicht nur zur Unterhaltung, sondern prägen auch das erste Bild der Menschen in Europa vom Nahen Osten und Ländern wie China – überdies nutzen später sowohl Händler als auch Entdecker wie Christoph Kolumbus Marco Polos genaue Beobachtungen als Planungs-Grundlage für eigene Reisen.
Der Beginn einer Lebensreise
Von all dem ahnt Polo noch nichts, als er 1271 mit seinem Vater Niccolo und seinem Onkel Maffeo in Richtung des heutigen Chinas aufbricht: Die beiden älteren Männer sind erfolgreiche Juwelen-Händler, haben einen Großteil von Marcos Kindheit und Jugend in Asien am Hof von Kublai Khan zugebracht, der über das größte Reich herrscht, dass die Menschheit jemals gekannt hatte. Nun ruft sie der mächtige Herrscher zurück, denn er interessiert sich für das Christentum, und fordert daher von den Polos, dass sie nicht weniger als hundert Priester und heiliges Öl aus Jerusalem mit sich bringen sollen. Marco ist zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 17 Jahre alt.
Nur zwei Geistliche erklären sich jedoch überhaupt bereit, und auch diese kehren schon bald wieder um, so dass die Polos alleine weiter reisen müssen. Die Rückkehr nach China, wo Kublai Khan in Xanadu (heute Shangdu) residiert, dauert vier Jahre. Es geht laut „Live Science” zuerst per Schiff von Venedig aus über das Mittelmeer nach Israel, von dort aus über Armenien und den Iran nach Afghanistan – dort wird Marco schwer krank, muss die Reise für ein ganzes Jahr unterbrechen, bevor die Gruppe das Pamir-Gebirge überquert. Vor ihnen liegt nun die riesige Wüste Gobi, über deren Durchquerung Marco in sein Tagebuch schreibt: „Diese Wüste besteht nur aus Bergen, Sand und Tälern. Es gibt absolut nichts zu essen.”
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Orte, die nie zuvor ein Europäer gesehen hat
Was dann passiert, ist geschichtlich umstritten, denn laut verschiedenen Quellen wie „Encyclopedia Britannica” gibt es außerhalb der Tagebücher von Marco Polo keinerlei schriftlichen Beleg dafür, dass er und seine Verwandten tatsächlich jemals in China waren. Daher erhält er auch unmittelbar nach dem Erscheinen seiner Tagebücher den unschmeichelhaften Spitznamen „Il Milione”, das italienische Wort für Millionen – und ein Bezug darauf, wie viele Lügengeschichten er sich angeblich ausgedacht habe. Der allgemeine Konsens geht aber heute dahin, dass Marco, sein Vater und sein Onkel tatsächlich den Hof von Kublai Khan erreichten, wo sie freudig in Empfang genommen wurden.
Demnach erhielten die beiden älteren Polos bedeutende Ämter am Hof des großen Khan, übrigens der Enkel des berüchtigten Dschengis Khan, der die halbe Welt mit seinem Reitervolk unterworfen hatte. Da Marco sehr schnell Chinesisch lernte, wurde er von dem Herrscher zum Sondergesandten ernannt und reiste so in Länder wie Myanmar, Tibet, Thailand, Vietnam und Indien – Orte, die nie zuvor ein Europäer gesehen hatte. In der Folge, und weil auch der große Khan sich an seinen ausschweifenden Geschichten erfreut, wird Marco schnell immer weiter befördert, dient so laut verschiedenen Quellen mal drei Jahre als Bürgermeister einer Stadt, überwacht dann wieder die Gewinne aus dem Salzhandel, oder berät seinen Herrn in militärischen Dingen.
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17 Jahre in China
Polo wiederum ist ein großer Bewunderer der chinesischen Kultur – vor allem beeindruckt ihn die Benutzung von Papiergeld, die in Europa noch völlig unbekannt ist, aber auch die Weltoffenheit und Gelehrtheit am Hofe von Kublai Khan, wo man bereits Porzellan benutzt und Schießpulver kennt. Laut „Live Science” nennt er daher Shangdu den „großartigsten Ort, den es jemals gegeben hat”. So bleiben er und seine Familie 17 Jahre dort, erwerben als Diener eines allmächtigen Herrscher selbst unermessliche Reichtümer.
Gegen Ende der 1280er-Jahre jedoch verschlechtert sich der Gesundheitszustand des Khan, und ohnehin möchten die Polos nach nun fast zwei Jahrzehnten fern der Heimat gerne ihr geliebtes Venedig wiedersehen. Außerdem regt sich in der chinesischen Bevölkerung immer mehr Widerstand gegen die mongolischen Besatzer, und die Polos als deren Diener befürchten wohl zurecht Repressalien für den Fall, länger zu bleiben. So brechen sie laut „National Geographic” auf zu einer letzten, überaus gefährlichen Reise. Noch einmal sollen sie dem Khan einen Wunsch erfüllen, indem sie die mongolische Prinzessin Kokejin in den Iran bringen, wo sie mit Khans Großneffe Arghun verheiratet werden soll.
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Die Heimreise von Marco Polo
1292 sticht so eine Flotte mit 14 Schiffen und 600 Mann Besatzung vom Hafen Quanzhou aus in See, muss aber schon bald für Monate auf Sumatra auf günstige Winde warten. Über die Insel schreibt Marco Polo unter anderem in sein Tagebuch: „Ihr könnt mir glauben: Die Eingeborenen in den Bergen verzehren Menschenfleisch.” Unwetter und Skorbut setzen der Mannschaft jedoch weit mehr zu, und so leben bei der Ankunft in Hormus von den 600 Menschen an Bord gerade einmal noch 18. Arghun ist mittlerweile verstorben, die Prinzessin wird mit seinem Sohn Casan verheiratet, stirbt aber selbst nach wenigen Jahren.
Marco, Niccolo und Maffeo erreichen 1295 wieder ihre Heimat, jedoch werden sie vorher von den mit Venedig verfeindeten Genuesern um einen Großteil ihres Vermögens gebracht. Über das heutige Istanbul schaffen sie es schließlich nach Hause, wo sie wegen ihrer langen Abwesenheit niemand mehr erkennt, längst hat man sie für tot erklärt. „National Geographic” zitiert den Chronisten Giambattista Ramusio folgendermaßen zu dem Ereignis: „Sie verströmten ein gewisses unbeschreibliches Flair von Tataren, sowohl in ihrer Erscheinung als auch in ihrem Akzent.” Als die Polos jedoch ihre immer noch zahlreichen erworbenen Reichtümer vorzeigen, heißt es: „Ganz Venedig eilte zu ihrem Haus, um sie zu umarmen.”
Noch im Jahr seiner Rückkehr kommt es zwischen Venedig und Genua zu einem Krieg, und Marco Polo wird als Kommandant eines Schiffes gefangen genommen. Im Gefängnis dann erfolgt die schicksalhafte Begegnung mit dem Schriftsteller namens Rustichello. Die ohnehin schon unglaublichen Geschichten schmückt der Schreiber dann noch auf eigene Weise aus, und so erscheint schließlich das Werk, dass Marco Polo unsterblichen Ruhm, aber auf der anderen Seite auch den Spitznamen „Il Milione” einbringt.
Zur Legendenbildung tragen 150 weitere Versionen der Geschichte bei, die im Laufe der Zeit erscheinen – der Buchdruck ist noch lange nicht erfunden, und so dichtet jeder weitere Autor auch weitere Details zur Geschichte hinzu. Vielleicht fühlen sich aber auch viele Schreiber zu freier Dichtung eingeladen wegen einem Satz, den Marco Polo auf dem Totenbett gesagt haben soll: Von seinem Freunden und Verwandten dazu gedrängt, endlich zuzugeben, dass er seine Abenteuer frei erfunden habe, beschied er demnach nur: „Ich habe nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was ich erlebt habe.”