26. November 2014, 17:02 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Es gibt Momente im Leben, die alles verändern. Für Jessica Wagener, Bloggerin und Online-Redakteurin, war die Krebsdiagnose 2011 ein solcher Moment: Noch während der Therapie beschloss sie, ihren Job zu kündigen und ein halbes Jahr lang allein durch die Welt zu reisen. Mit TRAVELBOOK hat sie über die Gründe für ihren Entschluss und die Planung ihrer Reise gesprochen.
„Machen wir uns nichts vor: Das Leben ist eine miese Bitch“, schreibt Jessica Wagener auf ihrem Blog. „Sie wirft mit Schlamm und Scheiße und sobald wir ihr den Rücken zudrehen, tritt sie uns ins Kreuz und lacht gehässig.“ Die Autorin dieser Zeilen ist 37 – und weiß, wovon sie spricht.
Mit 33 die schockierende Diagnose: Gebärmutterhalskrebs. Es folgten Monate, in denen Jessica Wagener gegen die Krankheit kämpfte. Mit Operationen, Chemo, Bestrahlung. In der Therapie begegnete sie einer Frau, die ihr erzählte, wie der Krebs bei ihr besiegt schien – und nach 14 Jahren wiederkam. „Das war für mich der Grund zu sagen: Wenn ich das hier überstanden habe, will ich mir einen Traum erfüllen und verschiedene Länder bereisen“, erzählt Jessica Wagener im Gespräch mit TRAVELBOOK.
Keinen Atemzug vergeuden
„Jede Sekunde auskosten. Keinen Atemzug vergeuden. Ich werde mein Bewusstsein bis zum Anschlag vollstopfen mit gleißenden Erlebnissen und Glück, mit Leben. Ich werde mich wappnen“, so schreibt sie in ihrem Buch. „Und wenn ich eines Tages wie diese Frau in einem Krankenhausbett vor mich hinvegetieren sollte und meine Haut wundgescheuert sein wird von den kratzigen Laken, dann werde ich meine Augen schließen und alles noch mal erleben. Dann werde ich nichts verpasst haben. Dann wird es okay sein. Der Tod bläst kleine Rauchkringel in die Luft. Er ist nicht wegen mir hier – noch nicht. Wir wissen es beide und nicken einander zu.“
Während Wagener selbst mit der Krankheit kämpfte, erkrankte auch ihr Patenonkel 2011 unheilbar an Krebs. „Du bist noch jung, mach‘ was aus deinem Leben,“ sagte er im Hospiz zu Jessica. Als er wenige Monate gestorben war, hatte die Patentochter einen Entschluss gefasst. An dem Tag seiner Beerdigung wurde sie operiert. „Man ist während einer Chemotherapie so abhängig von Ärzten und Ängsten. Ich wollte nicht länger fremdbestimmt sein.“
Ein halbes Jahr lang um die Welt
Ein halbes Jahr sollte ihre Weltreise dauern. Nicht länger – so würde sie nur einen der vierteljährlichen Nachsorgetermine verpassen –, aber auch nicht kürzer: „Sonst ist es keine ordentliche Weltreise, sondern ein längerer Urlaub.“ Und die Route? „Ich wollte unbedingt New York und Rio de Janeiro sehen“, erklärt Wagener. Hinzu kamen ein paar weitere Orte, die ebenfalls auf ihrer To-See-Liste standen. Daraus bastelte sie sich ihren Trip.
„Ein Around-The-World-Ticket enthielt mir zu viele Stopps für die kurze Zeit“, erklärt sie TRAVELBOOK. „Ich buchte die Flüge einzeln, Inlandsflüge vor Ort. Damit kam ich sogar noch günstiger weg als mit einem Around-The-World-Ticket. Ein weiterer Vorteil: Ich konnte selbstbestimmter und länger an einem Ort bleiben und musste eine Stadt oder ein Land nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen kennenlernen.“
Am Ende hatte sie ihre Route: Start in New York, von dort aus nach Miami, New Orleans, schließlich nach Mexiko, Kuba, dann ins ersehnte Rio de Janeiro und abschließend nach Südafrika. „Ich erinnere mich, wie ich diese Städte zum ersten Mal in der Reise-Reihenfolge aufgezählt habe: vor der mehrstündigen Operation im März, dem letzten von insgesamt fünf Eingriffen im Zeitraum von einem Jahr“, schreibt sie in ihrem Buch.
„‘Sie werden jetzt müde; zählen Sie von 100 an rückwärts.‘ Aus der Ferne zupft die Stimme der Anästhesistin an meinem Trommelfell. ‘Ich hab eine bessere Idee‘, wispere ich. ‘New York, New Orleans, Miami, Mexiko, Kuba, Rio de Janeiro, Buenos Aires, Kap-…“
Die Angst legt ihre Klauen um mein Herz
Neben der Route musste Jessica auch viele andere Details für ihre Reise organisieren. „Ich machte alle nötigen Impfungen, las Reiseberichte, Sicherheitshinweise für die jeweiligen Länder und besorgte mir Equipment.“ Eines davon wurde zu einer Art Zuhause für sie: „Das wichtigste Reisetool war definitiv mein Seidenbaumwoll-Schlafsackinlet. Damit kann man überall schlafen und fühlt sich sauber und sicher.“ Dieses Reiseuntensil würde sie oft benutzen, das so oft gepriesene Moskitonetz hingegen nur ein einziges Mal.
Oktober 2012. Tag der Abreise. Jessica sitzt im Flieger. Sie reist allein, ist es aber nicht: „Die Angst legt schon wieder ihre vertrauthassten Klauen um mein Herz und raunt mir ins Ohr: ‘Was machst du eigentlich, wenn du zurück bist? Wovon willst du dann leben? Was, wenn dir unterwegs was passiert? Wenn du wieder krank wirst? Und was, wenn dein Geld nicht reicht?‘ Ich winde mich in meinem Kunstledersitz und versuche, die Stimme in meinem Kopf zu ignorieren. Natürlich habe ich Schiss. Aber ich verdränge ihn, so gut ich kann.“
Es ging dann doch alles gut – bis auf die gehackte Kreditkarte und diesen einen ruppigen Mitbewohner. Aber neben diesen eher kleineren Problemen, die für Reisen dieser Art ohnehin fast obligatorisch sind, hat Jessica Wagener in den sechs Monaten so viel erlebt, dass es für ein ganzes Buch gereicht hat: „Narbenherz“. Darin berichtet sie von Elefanten und Pinguinen, vom „Karneval meines Lebens“ in Rio de Janeiro, von New York, das sie während des Hurrikans Sandy stromlos und verregnet erreichte, von New Orleans, das sie nach einem verstörenden Aufenthalt in einer Privatunterkunft verließ und vielem mehr.
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Die Reise war die beste Kur
„Die Angst vor dem Tod war der Auslöser und die Motivation für die Reise“, erzählt sie TRAVELBOOK. „Erst hatte ich Schwierigkeiten mit unerwarteten Situationen auf der Reise, aber dadurch habe ich das Gefühl zurückgewonnen, doch Kontrolle über mein Leben zu haben.“ Jessica hat sich während ihrer Weltreise auf ein neues Leben eingelassen und ihre eigenen Regeln entwickelt. „Diese Reise“, so fasst sie zusammen, „war die beste Kur für mich.“
Und ihr wunderbares Buch „Narbenherz“ (Rowohlt Verlag, 9,99 Euro), das dieser Tage erscheint, dürfte vielen Menschen Mut machen – und motivieren, ihren Traum zu leben.