4. Juli 2019, 10:57 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Radtouren über mehrere Kontinente und Tausende von Kilometern sind derzeit ja sehr en vogue. Wer sich hierfür aufs Rad schwingt, tut das für gewöhnlich um des Abenteuers willen oder um die eigenen körperlichen Grenzen zu erfahren. Anders Pradyumna Kuma. Der Inder hatte sich in den 1970ern in eine Schwedin verliebt und sich – da er kein Geld für den Flug hatte – mit dem Fahrrad auf den Weg zu ihr gemacht.
Als Lotta in der siebten Klasse ist, sieht sie einen Film über den Ganges. Seitdem will sie nach Indien, denn die Bilder aus dem fernen Land berühren sie mehr als alles, was sie in der Schule bisher erlebt hat. Im Oktober 1975, inzwischen ist Charlotte von Schedvin 19 Jahre alt, macht sie sich endlich auf den Weg, in einem VW Bulli, Jahrgang 1971. Nach 22 Tagen erreicht sie Indien.
Vor der Reise hatte sich die Mutter von ihrer Tochter ein gemaltes Porträt gewünscht, das sollte sie ihr aus Indien mitbringen. Doch der Straßenkünstler, den Lotta eines Abends auf dem zentralen Platz in Delhi, dem Connaught Place, entdeckt, packt gerade seine Sachen ein. Lotta, so wird sich der Maler später erinnern, trägt ein gelbes T-Shirt, eng sitzende Jeans mit ausgestelltem Bein und kein Make-Up. Sie fragt ihn, ob er am nächsten Tag auch da sei. „Ja“, sagt er.
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Der Beginn einer Liebe
Zwei Tage später reiht sich Lotta in die Schlange vor dem Stand des Porträtmalers ein. Sie fand, er sah aus wie eine dunkle Version von Jimi Hendrix oder wie ein Inder, der wie ein westlicher Reisender aussehen wollte. Als Kind hatte sie in einem Bilderbuch von einem lockigen Waldjungen gelesen, der umgeben von Seerosenblättern in einem dunklen Teich sitzt. Und seither war sie fasziniert von Menschen, die aussahen wie der Straßenkünstler am Connaught Place.*
Und auch der Maler – sein Name ist Pradyumna Kumar Mahanandia, wird aber der Einfachheit halber PK oder Pikay genannt – ist fasziniert von Lottas Erscheinung. Seine Hand zitterte, als er die ersten Striche zog. Es ist der 17. Dezember 1975, kurz nach sieben Uhr – es ist der Beginn einer Liebesgeschichte, die so rührend und fantastisch ist, dass man danach wieder an Märchen glauben mag. Und an die Liebe. Oder zumindest: an Wahrsager und Astrologen.
Denn eigentlich beginnt die Geschichte schon viel früher. In einem kleinen Dorf im indischen Dschungel. Hier wächst PK auf. Als einer der Unberührbaren, so nennt man die Menschen auf der niedrigsten Stufe im Kastensystem, die in ihrem Leben mit vielem rechnen müssen, aber nicht unbedingt: mit einer großartigen Zukunft. Dennoch bemühen die Eltern einen Astrologen, um in die Zukunft ihres Sohnes zu blicken.
„Er wird sich mit einem Mädchen verheiraten, das nicht aus dem Stamm, nicht aus dem Dorf, nicht aus dem Bezirk, nicht aus der Provinz, nicht aus dem Bundesland und auch nicht aus unserem Land stammt,“ ritzt der Astrologe in ein Palmblatt. Zu Pradymna sagt er: „Du musst nicht nach ihr forschen, sie wird dich aufsuchen.“
Als Kind sammelt Pradyumna Steine von der Straße und beginnt, darauf zu malen. Das Zeichnen wird zu seiner Leidenschaft und als er später in Delhi zur Schule geht, verdient er sich seinen Lebensunterhalt durch Porträts von Passanten. Er malt gut, ziemlich gut sogar. So gut, dass er bald Präsidenten porträtieren soll, die Kosmonautin Walentina Tereskowa und schließlich: Indira Gandhi. Die allerdings befand: „Du musst mehr üben, du musst trainieren, um geschickter zu werden.“
Nachdem Lotta PK gefunden hat, geht alles recht schnell. Sie verlieben sich, wenig später stellt er sie seinen Eltern vor und der Vater gibt den beiden seinen Segen. Lottas Eltern sind hingegen weniger begeistert, als sie nach der Rückkehr ihrer Tochter von der Verbindung erfahren. Lottas Wunsch, im Herbst schon wieder nach Indien zu fahren, hält die Mutter entgegen, dass sie sich lieber zuerst um ihre Ausbildung kümmern soll. Für die Liebenden bedeutet das: eine Trennung, deren Ende nicht absehbar ist.
PK hält das in Indien nicht aus. Aber eine Reise nach Europa kann sich der Maler nicht leisten, ein Flugticket ist unbezahlbar. Als er sein Studium am Delhi College of Art abschließt, kauft er sich für 60 Rupien ein Damenfahrrad – das Herrenmodell hätte das Doppelte gekostet – und macht sich auf den Weg. Im Gepäck: ein Schlafsack, eine hellblaue Windjacke, ein paar zusätzliche Hosen, die ihm jemand geschenkt hatte, und das blaue Hemd, das Lotta für ihn genäht hat.
Auf dem Hippie-Trail
Die Route: der sogenannte Hippie-Trail, der von Europa nach Südasien verläuft und von jenen Sinnsuchern und Abenteurern frequentiert wird, die man später als die Vorgänger der Backpacker bezeichnen sollte. Kabul, Kandahar, Teheran und Istanbul liegen auf PKs Weg. Vor seiner Reise hat er schon viel von dem Hippie-Trail gehört, etwa, dass es dort eine besondere Art von Gemeinschaft gibt, die die Reisenden auf der Straße (…) zusammenschweißt. Jeder hilft jedem, sagt man. Jeder teilt mit dem anderen, was er besitzt.
So ist es dann auch. Was PK darüber hinaus benötigt, verdient er sich als Porträtmaler. Und manchmal wird ihm gar ein Ticket geschenkt, für den Zug oder einen Flug. Doch die meiste Zeit verbringt er auf dem Rad – eine Art des Reisens, die ihm bei aller Anstrengung auch gefällt. Den ganzen Weg zu fliegen, würde nicht nur zu viel kosten, viel mehr, als er überhaupt hat, sondern es wäre auch zu einfach. So reisen die reichen Leute, aber nicht er, nicht ein richtiger Reisender.
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Die Schweiz ist nicht Schweden
Einen Tiefpunkt gibt es in Kandahar, als ihm klar wird, dass er einen Fehler gemacht hat. Als ihn nämlich ein Belgier fragt, wo er hinmüsse, und er antwortet: „nach Boras in der Schweiz“, sagt dieser, dass es einen solchen Ort in der Schweiz sicher nicht gibt. Ob er vielleicht Schweden meinte. Erst dann wird ihm etwas klar: Wie blöd er war! Sie hat doch gesagt, dass sie Schwedisch sei. Aber er hatte gedacht, das Land der Schweden sei die Schweiz. Und nun erinnert er sich auch, dass sie ihn immer verbessert hat. Was das für sein Vorhaben bedeutet? Gut 1000 Kilometer mehr auf dem Rad.
Und was ihm die Reise auch erschwert: Selbst wenn es ihm gelingen sollte, nach Schweden zu kommen. Wie kann er sicher sein, dass Lotta ihn dann noch will? Die Zweifel wachsen mit jedem abgestrampelten Kilometer.
Um eine lange Reise kurz zu machen: Nach fast 5 Monaten und ebenso vielen verschlissenen Fahrrädern kommt PK endlich in Göteborg an und wird von Lotta empfangen. Seine Zweifel waren unbegründet und bis heute sind Lotta und PK glücklich miteinander. Sie haben zwei Kinder und sind wohl das berühmteste Liebespaar Schwedens. Fahrrad fährt PK übrigens immer noch, wenn auch nicht mehr so weit.
Die Geschichte von Lotta und PK gibt es auch als Buch: Vom Inder, der auf dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr um dort seine große Liebe wiederzufinden von Per J. Andersson, aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann.
336 Seiten, 14,99 Euro, Erscheinungsdatum: 2. April 2015.
(*Alle Zitate und Passagen in Kursiv sind aus dem Buch.)