22. Juli 2017, 12:08 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Reisen, die Welt entdecken und nebenbei locker mit dem Laptop in der Hängematte arbeiten – wenn man das überhaupt Arbeit nennen kann. Soweit das Klischee von einem Leben eines sogenannten digitalen Nomaden. Doch was sich so traumhaft anhört, ist oft tierisch anstrengend und ziemlich einsam. Freiheit vs. Routine: Wie gut kann man Reisen wirklich mit Arbeit verbinden?
Digital Natives. An diesen Anglizismus haben wir uns so langsam gewöhnt (= Menschen, die mit digitalen Plattformen und dem World Wide Web aufwachsen). Aber was sind denn bitte Digital Nomads? Digitale Nomaden, das sind Traveller, die als Festangestellte oder Freelancer von überall aus auf der Welt für ihren Arbeitgeber oder an eigenen Projekten arbeiten. Die meisten von ihnen sind zwischen 25 und 40 Jahre alt und kommen aus den USA oder Europa. Sie reisen von Land zu Land, bleiben im Schnitt ein bis zwei Monate dort und suchen sich dann ein neues Reiseziel aus. Im Idealfall verbinden sie produktives Arbeiten mit dem Eintauchen in fremde Kulturen, den Genuss exotischer Speisen und dem Kennenlernen spannender Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnen.
Zwei Dinge brauchen sie dafür unbedingt: ihren Laptop und WLAN. Aber um wirklich erfolgreich darin zu sein, brauchen sie noch viel mehr.
Von wegen Hängematte
Sarah Kuhlemann, gebürtige Hamburgerin eröffnete nach ihrer Weltreise im April 2017 ein Coworking-Space in Zentralvietnam Nähe der Küstenstadt Hoi An. Hub Hoi An soll Digital Nomads eine Art Zuhause auf Zeit bieten, mit allem, was sie brauchen, um sich im Arbeitsalltag wohl zu fühlen. Denn eines weiß die 31-Jährige ganz sicher: Am Strand arbeitet kein typischer Digital Nomad. „Das Wichtigste für den Digital Nomad ist sein Laptop, und niemand will seinen Laptop von Sandkörnern befreien müssen“, so die Eventmanagerin mit zwei internationalen Studienabschlüssen zu TRAVELBOOK.
Kuhlemann kennt die Bedürfnisse ihrer Member genau: „Hängematten dienen vielleicht den Fotos auf Facebook und Instagram, aber die wenigsten Online-Businesses können von einer Hängematte aus gesteuert werden, zumindest nicht, wenn man fünf bis acht Stunden pro Tag arbeiten muss. Coworking-Spaces garantieren schnelles Internet, Generatoren bei Stromausfällen – was hier öfter vorkommt – Steckdosen, Tische, Stühle und Equipment wie Laptop-Stands, Mäuse, Keyboards, Verlängerungskabel, Kopierservice, Klimaanlage und so weiter.“
Das klingt zwar viel unromantischer als das Sommerurlaub-Klischee, dennoch wissen Hub-Hoi-An-Mitglieder wie James aus London diesen Lifestyle sehr zu schätzen: „Ich liebe es, in London zu leben und zu arbeiten. Es ist ein toller Ort, um deine Karriere voranzutreiben“, erzählt er TRAVELBOOK. „Aber ich habe fünf Jahre lang immer dasselbe gemacht, Monat für Monat. Die meisten Menschen machen um acht oder neun Uhr Feierabend, brauchen eine Stunde lang, um durch die City nach Hause zu fahren und ziehen sich jeden Abend etwas auf Netflix rein.“ Seitdem er weg sei, lese, schwimme und reise viel mehr – und gehe zudem noch lecker und günstig auswärts essen. „Ich arbeite an Dingen, die mich wirklich interessieren. Und ich habe sogar gelernt, drei Lieder auf der Gitarre zu spielen.“
Raus aus dem Hamsterrad
Laut Kuhlemann ginge es den Digital Nomads nicht um ein Leben in Reichtum, zumindest nicht im klassischen finanziellen Sinne: „Meine Einschätzung ist, dass Digital Nomads oft weniger verdienen, als wenn sie einen ’normalen‘ Job in ihrem Heimatland hätten. Allerdings wählt kaum jemand diesen Lifestyle, um reich zu werden oder Karriere zu machen, das heißt Freiheit und Unabhängigkeit wiegen mehr als Geld.“
IT-Experten (die mehr als die Hälfte der Digital Nomads ausmachen) werden überall mehr verdienen als ein Texter. Was aber für beide gleich vorteilhaft ist, sind die niedrigen Kosten in Ländern wie Vietnam. Laut Kuhlemann komme man hier mit 500 bis 900 Euro im Monat sehr gut aus – inklusive Wohnung, Scooter-Roller, Coworking-Space-Mitgliedschaft und Verpflegung. Geoarbitrage nennt man das: in einem Land mit niedrigen Unterhaltskosten leben und sein Geld in einkommensstarken Ländern verdienen. Oder anders gesagt: Starke Euros verdienen, schwache Vietnamesische Dongs ausgeben.
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Manchmal ist es auch die Neugier, die unzufriedene Hamsterrad-Läufer in das Nomadenleben zieht. So war es bei Marius aus Erfurt: „Ich habe keine Wohnung mehr in Deutschland, habe auch meinen gesamten Besitz verkauft und lebe nun aus dem Rucksack. Ich mag den minimalistischen Lebensstil und war sehr neugierig, wie es ist, ohne großen Besitz, ohne zu wissen, was kommt, ohne angebliche Sicherheiten dem Ruf meines Herzens und meiner Leidenschaft zu folgen“, erklärt er TRAVELBOOK.
Obwohl Marius als Entspannungstherapeut und Meditationslehrer die perfekten Voraussetzungen für ein ausgeglichenes, aber produktives (Arbeits-)Leben mit sich bringt, hat auch er ab und zu mit diesem Weg zu kämpfen: „Die größte Herausforderung ist es, nicht zu wissen, was kommt, geduldig zu bleiben und zu vertrauen, dass das Leben einen Plan hat und ich mir keine Sorgen machen muss, dass es mich vergisst und sich nicht mehr um mich kümmert. Entspannt zu bleiben, auch im Chaos, und den Turbulenzen mit neuen Umgebungen, Sprachen, kulturellen Gegebenheiten standzuhalten, dazu der Wechsel zwischen Ankunft und wieder die Sachen zu packen. Das alles fordert viel Energie.“
Knut Jöbges, Leiter der Fachtherapien der Schön Klinik Bad Arolsen, Achtsamkeitstherapeut und Qigong-Lehrer, erkennt in Digital Nomads den Freiheitsdrang des Menschen genauso wie das Bedürfnis nach Routine: „Ich glaube, dass ein halbwegs sicherer Rahmen, innerhalb dessen ich selbstbestimmt sein kann, erforderlich ist. Irgendeine Art Routine suchen wir alle: Auch der MacBook-Junkie hat seine Routinen: Anschalten, Mails checken, Kommentare schreiben, Bilder posten, skypen – eben arbeiten. Wenn er diese Routine verliert, verliert er seinen Halt. Doch die viel wichtigere Frage ist, ob er einen inneren Halt hat, eine innere Struktur und das Reisen nicht als Eskapismus, als Flucht missbraucht?“
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Einsame Herdentiere
Nie richtig ankommen, nirgends fest dazu zugehören und immer fremd, immer neu sein. Das kann man nur, wenn man seinen Selbstwert nicht im Außen sucht, sondern genau weiß, wer man ist oder zumindest, dass dieser Weg für das Hier und Jetzt der richtige ist. Dieses Gefühl kennt auch Marius: „Manchmal denke ich, wie schön es wäre, einfach morgens seine zwei, drei Stunden für sich zu haben, dann auf Arbeit zu gehen und abends auf ein Feierabendgetränk mit ein paar Freunden rauszugehen oder auf einer Wiese rumzuliegen und nichts zu tun. Eben das Bequeme, was einem das Leben gibt, wenn wir Verantwortung und Verpflichtung an Chefs und Firmen abgeben.“
Trägt man diese Verantwortung aber ganz alleine, reicht es nicht aus, gerne zu reisen und den Globus Stück für Stück mit Reißbrettstiften vollzustecken: „Reisen und arbeiten ist einfach. Reisen und dabei Deadlines einzuhalten oder sein eigenes Online-Business aufzubauen, ist eine Herausforderung“, sagt Sarah Kuhlemann aus eigener Erfahrung. „Deswegen brauchen Digital Nomads einen starken Willen, eine Extra-Portion an Motivation, Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen, finanzielle Reserven für Durststrecken, Neugier und Spaß an Weiterbildung, Hilfsbereitschaft, Flexibilität und Neugier.“Stünde das auf dem Profil einer Stellenbeschreibung, fielen so einige Arbeitnehmer sofort aus dem Raster oder würden sich selbst als ungeeignet einstufen und überfordert fühlen.
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Überfordert fühlen sich auch viele Digital Nomads, wenn sie die Kehrseite des arbeitenden Reiselebens – oder reisenden Arbeitslebens – kennenlernen. Was dann hilft, ist die Gemeinschaft mit anderen, denen es genauso geht. Exakt aus diesem Grund braucht man Coworking-Spaces, oder besser gesagt Coliving-Spaces: „Ich liebe das Konzept von Coworking-Spaces und ihre inspirierenden, motivierenden und unterstützenden Communitys“, so Kuhlemann. „Ich will mit dem Hub Hoi An einen Ort schaffen, an dem Menschen zusammenkommen, in einer angenehmen Arbeitsumgebung arbeiten – gemeinsam oder allein an ihrem Projekt –, aber ohne allein zu sein, gemeinsam essen, zusammen die Schönheit Vietnams erkunden und Freundschaften schließen.“
Also unabhängig sein, aber nicht alleine sein. Für sich sein und dennoch immer wieder Freunde um sich haben. Nicht lokale Freunde, nicht einheimische Bekannte, sondern westliche Freunde, die dieselben (Luxus-)Probleme teilen, quasi internationale Kollegen-Freunde. Einziges Manko: Dafür muss man diese Freunde erst einmal finden, immer wieder aufs Neue. Und nicht nur das – auch das Liebesleben leidet unter dem Nomaden-Dasein. Doch zum Glück hatte auch da schon jemand (wahrscheinlich ein Nomade) eine Idee: „Manche sind sicher einsam und wünschen sich einen Partner“, berichtet die Coworking-Space-Gründerin, „aber auch hier gibt es bereits eine Lösung: Nomad Soulmates – eine Datingplattform für Digital Nomads“.
Und so zeigt sich, dass auch Nomaden Herdentiere sind und keine zurückgezogenen Alleingänger. Das bestätigt auch Jöbges: „Interessanterweise ist es ja viel weniger ein Abkapseln von der Außenwelt als viel mehr ein Dazugehören: zu den ’neuen‘ Hippen, auf der Höhe der Zeit – ‚we are the future‘, ‚wir sind die einsamen Helden der neuen Welt‘, Pfadfinder, Ritter der Bits und Bites.“
Auch wenn einige mit der Vorstellung ins erste Flugzeug steigen, alleine die Welt zu erobern und dafür nichts und niemanden zu brauchen (außer Laptop und Gehirn), werden sie schnell merken:
Reisen kann man gut alleine. Aber leben geht nur gemeinsam.