6. Juli 2016, 10:50 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Sieben Jahre ist es her, dass bei Sabine Niese die unheilbare Nervenkrankheit ALS diagnostiziert wurde. Und obwohl ihr oft gesagt wurde, sie habe nicht mehr so lange zu leben, hielt die Hamburgerin immer an ihren Träumen fest. Eine Pilgerreise auf dem Jakobsweg stand weit oben auf Sabines „Löffelliste“, einer Liste mit Dingen die sie noch tun wolle, bevor sie „den Löffel abgeben muss“, wie sie selber sagt. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Nicole Eskes und in einem Rollstuhlfahrrad wagt sie das scheinbar Unmögliche.
Es war ein besonderes Bild, das sich Wanderern im Juni auf dem Jakobsweg bot. Da saß eine Frau in einem rosafarbenen Rollstuhl, während ihre Freundin an dem daran befestigten Fahrrad beide vorwärts bewegte. Ein Foto zeigt die beiden, strahlend in die Kamera blickend, auf dem Rad des Rollwagens ist in Lettern groß „Team Hoffnung“ zu lesen. Zwei Wörter, die viel über die Geschichte der beiden Frauen sagt. Es geht um Menschen, die sich nicht aufgeben, um Lebensmut, Freundschaft und darum, sich Träume zu erfüllen – so widrig die Umstände auch sein mögen.
Eine ALS-Patientin auf dem Jakobsweg
Sieben Jahre bevor dieses Foto entstand, bekommt Sabine Niese die Schock-Diagnose: ALS, eine Krankheit, bei der es zu einer Schädigung der Nervenzellen kommt, was zunächst Muskelschwäche und später Lähmung zur Folge hat. Im fortgeschrittenem Stadium können ALS-Patienten häufig nicht mehr selbstständig sprechen, schlucken oder atmen. Die Lebenserwartung ist insbesondere ohne künstliche Beatmung gering. Im Gespräch mit TRAVELBOOK erinnert sich die 41-Jährige, dass sie sich nie zu Herzen genommen habe, dass sie gesagt haben, dass sie nicht lange leben werde. „Ich hab mir gesagt: Ja gut, das sehen wir dann.“
Das Ziel der dreifachen Mutter und Ehefrau ist es, noch Abenteuer erleben zu können – „so gut es halt geht.“ Die Pilgertour auf dem Jakobsweg sei eines der Dinge gewesen, die auf ihrer „Löffelliste“ gestanden hätten, wie sie es selbst ausdrückt – einer Liste mit Dingen, die sie noch tun wolle, bevor sie den „Löffel abgeben muss“.
Beim Gewinnspiel gescheitert – und trotzdem Glück gehabt
Dass sich Sabines Traum von einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela letztlich erfüllt, verdankt sie auch ihrer Mitpilgerin Nicole, die sie vor etwa vier Jahren kennengelernt hat. Nicole ist Pflegerin und betreut ALS-Patienten. Heute sind die beiden unzertrennlich. „Wir machen Quatsch und erleben Abenteuer“, wie Sabine erzählt, und auf den Kino-Hit anspielend: „Ziemlich beste Freunde war gestern. Jetzt kommt: allerbeste Freundinnen.“ Ohne Nicole wäre sie „echt aufgeschmissen“, gibt Sabine zu. „Sie erhellt mein Leben ungemein.“ Und sie haben beide den gleichen Wunsch: sich einmal auf den Jakobsweg zu begeben. Gemeinsam suchen sie nach Möglichkeiten, um das Projekt umzusetzen.
Im Dezember vergangenen Jahres tut sich plötzlich eine Chance auf: Bei einem Gewinnspiel gibt es Rollstuhlfahrräder zu gewinnen. Die perfekte Lösung. Etwa 5000 Euro kostet ein solches Gefährt normalerweise. Geld, das Sabine nicht hat. Sie machen beim Gewinnspiel mit – und scheitern. Doch kurz darauf geschieht ein kleines Wunder. Ein Facebook-Freund von Sabine erfährt davon, und kauft ihr das teure Rollstuhlfahrrad. Von da an ist klar: Die beiden werden die Reise wirklich antreten können.
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„und dann sind wir einfach nach Porto geflogen“
Eigentlich, so müsste man meinen, gehört ein solches Projekt minutiös durchgeplant, doch Sabine und Nicole gehen das anders an. „Ich bin überhaupt gar kein Freund davon, irgendwas zu planen“, sagt Sabine. Bis auf die Flüge ist nicht vorher nichts gebucht, und das, obwohl die Hamburgerin durch die Krankheit eingeschränkt ist und auf rollstuhlgerechte Herbergen angewiesen ist.
Menschen, die Sabine nicht so gut kennen, haben Bedenken und raten ihr von der Reise ab. Ihre Freunde wissen jedoch, dass sie es sowieso machen wird und trauen es ihr auch zu. „Wir haben Klamotten eingepackt und natürlich ganz viele medizinische Sachen, und dann sind wir einfach nach Porto geflogen.“
Gegen alle Widerstände
Von Porto aus geht es los. Doch natürlich ist der Jakobsweg nicht rollstuhlgerecht, bislang zumindest nicht. Immer wieder stoßen die beiden auf Hindernisse: Steile Stufen oder fehlende Brücken erschweren das Fortkommen. Einmal fahren sie 20 Kilometer, nur, um an einem Abhang festzustellen, dass sie den ganzen Weg wieder zurückkehren müssen. Dennoch nehmen sie es gelassen: „Ja, dann fahren wir halt wieder zurück. Mal schauen, was wir noch so sehen“, sagen sie sich. Ohnehin sei für Nicole nie etwas „umsonst“, wie Sabine verrät, was alles etwas leichter mache.
Die härteste Herausforderung stellt sich den beiden aber auf ihrer letzten Etappe. Eigentlich sind es nur noch acht Kilometer bis zum Zielort Santiago de Compostela – für die sie allerdings den ganzen Tag brauchen, denn es regnet in Strömen. Beide sind völlig durchnässt, selbst die Regensachen halten dem Wasser nicht stand. Und dann versagt auch noch die Antrittshilfe für das Rollstuhlfahrrad, beinahe kippt das Gefährt um. Völlig durchnässt und erschöpft erreichen sie die Kathedrale von Santiago de Compostela – das Ziel ihrer Reise. „Eigentlich war es auch total geil, weil wir uns den Weg noch echt erkämpft haben“, erinnert sich Sabine an diesen emotionalen Moment.
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Das nächste Ziel steht auch schon fest
Von der Reise haben die beiden Frauen einige wertvolle Erinnerungen mitgebracht, vor allem unerwartete Begegnungen. Immer wenn sie Hilfe brauchten und sie sich mit dem Rollstuhlfahrrad festgefahren hatten, kam ein anderer Pilger, der den beiden weiterhalf. Eine Person blieb Sabine dabei besonders in Erinnerung: ein indischer Arzt, der sich auf ayurvedische Medizin spezialisiert hat. Sie würde ihm zweimal begegnen: einmal im Nachbarbett in einem Hostel auf dem Weg, und ausgerechnet in dem Moment, als sie nach all den Strapazen mit ihrer Freundin in Santiago ankam. Für Sabine steht damit das nächste Ziel auf ihrer „Löffelliste“ bereits fest: Es soll nach Indien gehen, mit Rollstuhlfahrrad und ihrer treuen Freundin Nicole.
Wer sich über ALS informieren und unterstützen möchte, kann dies auf „Chance zu Leben-ALS e. V.“ tun.