14. Februar 2023, 12:14 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Es ist eine der bekanntesten australischen Legenden: Bei einem Picknick am Valentinstag im Jahre 1900 verschwinden plötzlich vier Frauen – für immer. Die Erklärung für das Drama ist verblüffend einfach – und beschäftigt Mystery-Fans bis heute.
Wer von der Stadt Melbourne aus etwa 70 Kilometer in Richtung Norden fährt, der gelangt an einen Ort mitten im Nirgendwo, der ein überaus beliebtes Ausflugsziel ist – und der Schauplatz einer der bizarrsten australischen Legenden überhaupt. Der Mount Diogenes, besser bekannt als Hanging Rock, ist eine mehr als sechs Millionen Jahre alte Gesteinsformation und fasziniert die Menschen seit der „offiziellen“ Entdeckung im Jahre 1836. Doch was vor allem polarisiert, ist die Schauergeschichte, die sich hier am Valentinstag des Jahres 1900 zugetragen haben soll.
Der Legende nach bricht eine Schulklasse junger Mädchen zu einem Ausflug zum Hanging Rock auf, es ist der 14. Februar 1900. In Begleitung ihrer Lehrerin Miss McCraw wollen die Schülerinnen einen sorglosen Nachmittag verbringen – doch dieser endet in einer Katastrophe. Es beginnt damit, dass die drei Schülerinnen Marion, Irma und Miranda sowie Miss McCraw sich von der Gruppe entfernen, weil sie den Felsen auf eigene Faust erkunden wollen.
Wie vom Erdboden verschluckt
Als die Klasse später am Tag zu ihrer Schule zurückkehren will, sind die vier Frauen allerdings spurlos verschwunden – und drei von ihnen sollen es für immer bleiben, spurlos, so als hätte der Erdboden sie verschluckt, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Doch zu diesem Zeitpunkt besteht noch Hoffnung, die Vermissten zu finden, denn eine andere Gruppe Picknicker will die Frauen gesehen haben. Es startet eine großangelegte Suchaktion. Eigentlich ist das Areal nicht allzu groß und von den Helfern schnell durchsucht, aber dennoch finden sie nichts – bis einige Tage später plötzlich Irma wieder auftaucht, verwirrt und ohne jede Erinnerung.
Eine verblüffend einfache Erklärung
Der Fall wird nie aufgeklärt, Marion, Miranda und Miss McCraw tauchen nicht wieder auf – und der Hanging Rock wird zu einer Legende, einem Schauplatz, an dem manche Besucher auch heute noch übersinnliche Energien wahrzunehmen glauben. Denn natürlich gibt es zahlreiche Mutmaßungen, was mit den Frauen passiert sein könnte, rätseln nicht Wenige, ob sie am Ende gar von Außerirdischen entführt worden seien. Die Erklärung ist wohl aber viel einfacher – und deshalb umso verblüffender.
Denn obwohl selbst das Besucherzentrum am Hanging Rock laut einschlägiger Berichte im Netz auf die Geschichte Bezug nimmt und sie als Fakt ausgibt, hat sie wohl nie wirklich stattgefunden – sondern wurde stattdessen von der Autorin Joan Lindsay schlicht erdacht. In ihrem 1967 erschienenen Buch „Picnic at Hanging Rock“ beschreibt sie die angeblichen Ereignisse – anscheinend für die damaligen Leser derart überzeugend, dass viele annahmen, es handele sich um eine tatsächliche Begebenheit. Dabei gab sich Lindsay bereits im Vorwort zu ihrem Buch nebulös und schrieb unter anderem: „Ob das Picknick am Valentinstag sich tatsächlich so ereignet hat oder nicht, müssen meine Leser selbst entscheiden. Doch da das Picknick im Jahre neunzehnhundert stattgefunden hat und die Charaktere, die in diesem Buch auftreten, schon lange tot sind, erscheint diese Frage unerheblich.“ Dieses Vorwort ist einem Text des Autors Roland Rottenfußer auf der Seite „Matrix3000“ entnommen, taucht aber auch auf anderen Webseiten so auf.
Lindsay selbst wurde eine Neigung zum Spirituellen nachgesagt, in ihrer Autobiografie „Time without clock“ behauptete sie beispielsweise, Uhren und Maschinen blieben stehen, sobald sie sich ihnen nähere. In einem Interview mit einer großen australischen Tageszeitung soll sie einmal bezüglich ihres Buches sinngemäß Folgendes geäußert haben: „Ich selbst kann nicht sagen, ob die Geschichte wahr ist oder Fiktion – aber es sind bereits eine Menge seltsamer Dinge rund um den Hanging Rock passiert. Dinge, für die es keine logische Erklärung gibt.“
Passierte alles in einem Paralleluniversum?
Logisch lässt sich aber erklären, warum ihr Buch – und damit auch die ganze Geschichte um das angebliche Picknick am Valentinstag – reine Erfindung sein muss: Zunächst einmal gibt es in keinem Archiv Zeitungsberichte zu der angeblichen Begebenheit, auch hat die Polizeistation im nahegelegenen Woodend dazu keinerlei Einträge. Skeptiker wiederum behaupten, das läge daran, dass die Polizeistation eines Tages abgebrannt sei und dabei alle Aufzeichnungen vernichtet wurden – aber auch dafür gibt es keine Beweise. Genausowenig lassen sich beispielsweise Einträge zur offiziellen Existenz der „verschwundenen Frauen“ finden. Der erdrückendste Beweis aber, dass die Geschichte nichts weiter ist als eine Schauermär, ist folgender: Im Buch ist der 14. Februar 1900 ein Samstag, daher dürfen die Mädchen einen Ausflug machen. Der tatsächliche 14. Februar 1900 fiel allerdings auf einen Mittwoch.
Dem Hype um Lindsays urbane Legende taten all diese Beweise allerdings keinen Abbruch, im Gegenteil: 1975 wurde das Buch vom Regisseur Peter Weir unter dem Titel „Picknick am Valentinstag“ verfilmt – wodurch sich der Roman, vorher eher ein Ladenhüter, allein in Australien hunderttausendfach verkaufte.
Sehen Sie hier den offiziellen Filmtrailer:
Auch die Autorin Yvonne Rousseau sprang 1980 auf den Zug auf, als sie ihr eigenes Buch „The murders at Hanging Rock“ veröffentlichte. Zwar bezeichnete auch sie im Vorwort die Ereignisse als reine Fiktion, wartete dann aber in ihrem Buch dennoch mit ganzen fünf verschiedenen Theorien auf, warum die Geschichte eben doch wahr sein könnte, unter anderem, das Ganze habe sich in einem Paralleluniversum oder einer anderen Dimension abgespielt. Ihre Theorien kann man unter anderem auf der Seite „Bookmice“ nachlesen.
Joan Lindsays Vermächtnis
1984 starb Joan Lindsay, die Schöpferin des Mythos, schließlich im Alter von 88 Jahren, doch sie hinterließ der Welt noch einen letzten Gruß. Drei Jahre nach ihrem Tod wurde, wie in ihrem Testament festgehalten, ein letztes, 18. Kapitel veröffentlicht, das damals nicht seinen Weg in die Originalversion von „Picnic at Hanging Rock“ gefunden hatte. In diesem ultimativen Kapitel gab Lindsay schließlich die Auflösung ihres Schöpfungs-Mythos bekannt und kennzeichnete damit die gesamte Geschichte als pure Fiktion.
Warum dieses Kapitel nicht schon ursprünglich veröffentlicht wurde, erklärt sich schnell: Lindsays Auflösung der fiktiven Ereignisse in ihrem Buch ist in der Tat derart abstrus, dass man wohl bei ihrem Verlag fürchtete, es würde sich deshalb schlechter verkaufen. So ersteigen die vier Frauen den Berg, entledigen sich ihrer Korsetts, verwandeln sich daraufhin in kleine Tiere und betreten durch einen Spalt das Innere des Berges, welcher dann durch einen herabfallenden Felsen versiegelt wurde, sodass man nie wieder etwas von den Frauen sah oder hörte. Die Aufregung bei den Fans war groß, und sogar der „Spiegel“ berichtete darüber.
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Hanging Rock ist ein beliebtes Ausflugsziel
Doch selbst dieser klare Beweis, dass es sich bei Lindsays Geschichte eben um nichts weiter als Fiktion handelt, schreckt Mystery-Fans bis heute nicht ab: Noch immer ist der Felsen ein beliebtes Ausflugsziel von Verschwörungstheoretikern. So hört man immer wieder von Paketen, die an die Park-Ranger des Hanging Rock-Reservates geschickt würden. Die Absender seien Menschen, die dort illegal Gestein mitgenommen hätten und es nun zurückschickten, weil es ihnen Unglück gebracht habe.
Zweimal im Jahr, am 1. Januar und am Australia Day (26. Januar), findet hier allerdings ein ganz natürliches Ereignis statt: ein Pferderennen mit dem klangvollen Namen „Hanging Rock Cup“. Bereits 1880 gab es auf dem Gelände den ersten Wettbewerb dieser Art. Wer sich also noch einen gruseligen Urlaub in diesem Jahr wünscht, sollte jetzt schnell die Reise nach Australien buchen – wer weiß schon, welche Geheimnisse der Hanging Rock wirklich birgt.