15. Dezember 2017, 16:53 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Mitten im Schweizer Kanton Graubünden nahe Falera liegt ein mystischer Ort mit sagenumwobener Vergangenheit: der „Parc La Mutta“ – eine Art Schweizer Stonehenge. Hinter den mehr als 30 geometrisch angeordneten Steinen versteckt sich eine 3500 Jahre alte Kultstätte.
Ein verschlafenes Bauerndörfchen mit rund 600 Einwohnern – das ist die Gemeinde Falera im Schweizer Bündnerland. Hier am Alpenrand, auf rund 1250 Metern über dem Meeresspiegel, sprechen die Menschen rätoromanisch, sie machen Käse, essen Bündnerfleisch. Während im Winter ein weißes Schneekleid die sanften Hügel bedeckt, weiden im Sommer Kühe auf gelb blühenden Weiden. Eines ist es das ganze Jahr über: urig und still.
Doch zwischen den Kühen am südlichen Dorfrand ragen spitze Steine in den Himmel. Auf den ersten Blick fallen sie kaum auf, sodass man gedankenverloren an ihnen vorbeigehen könnte. Aber das genauere Hinsehen lohnt sich, handelt es sich doch um mehr als 3500 Jahre alte Spuren einer prähistorischen Kultstätte und die bedeutendste keltische Steinanlage des Landes. Für viele gilt der geologisch geschützte Parc La Mutta sogar als das Stonehenge der Schweiz.
Zwar ist das echte Stonehenge in England in der Nähe von Amesbury älter, und auch macht es auf den ersten Blick mehr her – doch die Megalithen, Opfersteine und Jahrtausende alten Funde auf dem kleinen Hügel (Rätoromanisch: „Mutta“) über Falera haben eine ebenso mystische Bedeutung. Der Hügel war ein Ritualplatz, auf dem einst Götter und Druiden gewirkt haben sollen. Druiden waren nicht nur weise Männer, Heiler und Lehrer, sondern vor allem als Priester zuständig für religiöse Rituale.
Sonnenkult in den Schweizer Bergen
Entsprechend sind die Steine bei Falera nicht zufällig platziert. Mehr als 30 bis zu drei Meter hohe sogenannte Menhire (Keltisch für „langer Stein“), Opfersteine und Zeichensteine bilden Reihen und Dreiecke. Sie geben Auskunft über Sonnenaufgänge, Sommer- und Wintersonnenwende. Dieser keltische Kalender bestimmte die Zeiten von Saht und Ernte. Es war ein Versuch der Menschen vor mehr als drei Jahrtausenden, Herr über Raum und Zeit zu werden. So soll ein besonderer Zeichenstein, in den Pfeil und Bogen mit einer sichelförmigen Spitze geritzt sind, sogar exakt den Punkt am Himmel markieren, an dem am 25. Dezember 1089 vor Christus um 10.17 Uhr die Sonnenfinsternis am Himmel über Falera zu beobachten war.
„Die Steinreihen und Schalensteine dienten sicher als Kalender und Kultplatz“, sagt Claudia Cathomen, Präsidentin des Parc La Mutta. Himmelskörper wie die Sonne waren eine Art Gottheit, sie galten als übermächtig, wurden gefürchtet, verehrt und angebetet.
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Die Entdeckung einer Siedlung
1935 gab es eine weitere Entdeckung auf der Mutta: eine bronzezeitliche Siedlung aus dem Zeitraum von circa 2000 bis 800 v. Chr. Noch heute zeugen mit Moos bewachsene Überreste eines alten Walls davon. Wo heute hohe Bäume stehen, sollen damals bis zu 120 Menschen in Blockhäusern gelebt haben. Bei den Ausgrabungen hat man eine Herdstelle, Keramikreste, Mahlsteine und Bronzesicheln für den Ackerbau gefunden. Der spektakulärste Fund aber war eine bronzene Scheibennadel, mit der berechnet werden kann, wann Erde und Venus sich besonders nahe oder fern stehen. Der Züricher Mathematiker und Astronom William Brunner ist sich deshalb sicher: Hier wurde ein „Venuskult“ gelebt. Das heißt, man glaubte, dass die Venus in Erdnähe eine Liebeskraft auf die Menschen ausstrahlte. War die Venus weit entfernt, hoffte man auf ihre heilende Wirkung.
Für die Maya war die Venus ein kriegsbringendes Gestirn. Durch Zeremonien wollten sie sie besänftigen. Vielleicht diente der Felskopf im Südosten des Hügels über Falera für solche Zwecke. Der große Opferstein mit tiefen schalenförmigen Einkerbungen könnte für Gaben an die Götter gedient haben. Druide nutzten solche Steine als Altar, um Opfergaben darauf abzulegen und die mächtigen Götter zu besänftigen.
Der Schweizer Kulturanthropologe und Landschaftsmythologe Kurt Derungs ist sich sicher: Die Steine bei Falera sind nur noch der Rest einer ehemals viel größeren, komplexen Anlage. Mit der Zeit geriet der Kraftort in Vergessenheit. Steine wurden gedankenlos als Baumaterial entwendet, der einstige Kult war vergessen. Erst in den 1980er-Jahren begann man wieder mit der Rekonstruktion und Pflege der Anlage.
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Kirche verdrängt alte Götter
Auf der bewaldeten Mutta thront heute die Remigiuskirche. Vor mehr als 500 Jahren wurde sie als eines der ersten Gotteshäuser im Kanton Graubünden über der Sonnenkultstätte erbaut. Wie so oft sollte sie anderen Glauben verdrängen, vernichten und vergessen machen. Heiden wurden öffentlich angeprangert, verteufelt, ausgelöscht.
Heute bilden Kirche und Steine ein harmonisches Bild auf dem bewaldeten Hügel über Falera. Und Esoteriker und Neuheiden pilgern wieder in das kleine Bergdörfchen – um die Kultstätte zu sehen und die Kraft dieses Ortes zu spüren.
Ähnlich wie beim echten Stonehenge wird wird man wohl nie genau wissen, was Gerücht, Mythos oder Wahrheit ist. Aber eines ist sicher: Steht man am Fuße der Kirche auf der Mutta in Falera zwischen den in der Abendsonne leuchtenden alten Steinen, fühlt man sich klitzeklein.