26. Juli 2018, 15:16 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Vor Bären haben wohl die meisten Angst. Dass die mächtigen Raubtiere aber, sofern die Bedingungen stimmen, an Menschen keinerlei Interesse haben, zeigt die Erfahrung des Journalisten und Tierfotografen Nioclás Seeliger: Er verbrachte fünf Tage allein in einer winzigen Hütte in der finnischen Taiga – umgeben von Bären.
Von N. Seeliger
Ich kann den stoßweisen Atem hören. Im dunkelbraunen Fell sind schon einzelne Grashalme erkennbar. Und mein Adrenalin-Pegel steigt und steigt. Keine vier Meter entfernt stoppt Europas größtes Raubtier. Der Braunbär dreht mit seinen mächtigen Pranken einen kleinen Felsbrocken um wie einen Legostein. Verspeist anschließend genüsslich das darunter entdeckte Fressen. Mich und den dunkelbraunen Koloss trennen gerade mal ein bisschen Sperrholz, Plexiglas und zwei Kameras.
Und wir sind hier gerade ziemlich allein miteinander in der finnischen Taiga. Die nächsten Menschen dürften die Posten an der zwei Kilometer entfernten russischen Grenze sein. Zwanzig Minuten dauert die einzigartige Begegnung. Der Braunbär trottet anschließend satt und entspannt davon in die nicht dunkel werdende nordische Nacht.
Besuch im Bären-Land. Unterwegs in der finnischen Taiga!
Bären als Wirtschaftsfaktor
Gut zweitausend der bis zu 300 Kilo schweren Raubtiere leben versteckt in den unendlichen Wäldern. Und sind inzwischen auch ein Wirtschaftsfaktor. „Das war ein alter, mächtiger Braunbär. Wenn er gewollt hätte, die Hütte, in der du warst, wäre Kleinholz. Aber warum sollte er? Es gibt keinen Grund, du hast ihm nichts getan“, erklärt Sabrina, als sie die Fotos von der abendlichen Begegnung sieht. Sie hatte mich am Vortag hier in der nordeuropäischen Wildnis ausgesetzt. Von Bären und naturbegeisterten Abenteurer wie mir lebt sie.
Vor zwanzig Jahren kam sie aus Frankreich. Heute führt sie mit „Taiga Spirit“ Beobachter und Fotografen in die Wälder, bietet Safaris an. Wobei die „Big Five“ hier nicht Löwe, Elefant & Co sondern Bär, Wolf, Luchs, Elch und Vielfraß sind.
Kuhmo, die östlichste Stadt Finnlands. Zwischen Karelien und Lappland. Mit dem Flugzeug geht es von Deutschland über Helsinki weiter nach Kajaani und von dort mit dem Auto zwei Stunden über wunderbar leere Landstraßen nach Osten. Kuhmo hat etwa 80 bärige Einwohnern, dazu nicht einmal zehntausend Menschen. Das alles verteilt auf 5500 Quadratkilometern. Genug Platz für alle. Und auch noch für die Touristen.
Es sind stille Wanderungen durch die typischen Taiga-Wälder aus Birke, Fichte und Kiefer. Am Boden wachsen neun verschieden Beeren-Arten. Von Bär, Wolf oder Luchs werden Ungeübte kaum etwas entdecken. Sabrina aber zeigt plötzlich auf ein einen riesigen Tatzenabdruck auf dem Boden: „Etwa 17 Zentimeter. Das ist von einem großen Bären-Männchen. Der Abdruck ist aber schon älter, stammt aus der Paarungszeit, als er auf der Suche war.“
Dass sich Mensch und Bären hier in der Taiga beim Beeren-Suchen in die Quere kommen – nahezu ausgeschlossen. Zu groß das Land, zu weit die Wälder. Und trotzdem gibt es noch immer diese Angst vor den großen Räubern. „Deshalb ist es auch ein Stück weit Aufklärung, wenn ich Besucher in meinen Waldhütten habe und sie die beeindruckenden Tiere aus nächster Nähe sehen und dabei merken: Die sind gar nicht gefährlich für mich.“ Klar ist aber auch: Bären sind Raubtieren und unter bestimmte Umständen auch gefährlich.
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Allein unter Bären – in einer fragilen Hütte
Die Beobachtungshütten sind einfach. Maximal Platz für acht Personen. Ein Doppelstock-Bett, Trocken-Klo. Und auf den ersten Eindruck nicht gerade robust genug, um einen Bären zu beeindrucken. Nach fünf Tagen weiß ich, dass es ausreicht. Denn in den langen, aber nie dunklen Nächten, kommen angelockt von vielen kleinen Leckereien immer wieder Bären vorbei. Auch dauerhungrige Vielfraße. Von den bis zu 32 Kilo schweren Mardern gibt es wenige Hundert hier in Ost-Finnland. Auch dank des problemlosen EU-Russland-Grenzverkehrs für Fellträger.
Die Raubtiere und ich hier in meiner Hütte kennen uns inzwischen etwas. Ich unterscheide Fellfarben und die Größe der Ohren. Und den Bären ist inzwischen klar: Dieser menschliche Geruch, den wir aus diesem Kasten am Waldrand wahrnehmen, ist zu vernachlässigen, weil ungefährlich. Mehr müssen sie von mir auch nicht wissen…
Der Bär ist Finnlands Wappentier – und wird trotzdem geschossen. „Auch hier bei uns“, sagt Sabrina frustriert. „Vom 20. August bis Ende Oktober ist Jagdzeit.“ Das Fell landet als Trophäe an Jäger-Wänden, das Fleisch in Restaurants in Helsinki oder als Pastete in Büchsen für Touristen auf dem Flughafen. Die überlebenden Bären verkriechen sich im Spätherbst in ihren Höhlen zum Winterschlaf. Sabrina und ihre Besucher werden erst im nächsten April wissen, welche Tiere nicht den Jägern zu Opfer gefallen sind…