1. Mai 2022, 5:37 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Versteckt im schwer zugänglichen Dschungel von Venezuela, liegt der Salto Ángel, der höchste Wasserfall der Welt. Unser Reporter hat das Natur-Highlight 2013 besucht – ein Abenteuer fürs Leben, das ihn bis heute nicht loslässt. Genauso wie seine Trauer um ein Land, das nicht mehr dasselbe ist wie damals.
Manchmal, wenn die persönlichen Glückssterne besonders günstig stehen, hat man die Chance, ein Abenteuer zu erleben, an das man sich für den Rest seines Lebens erinnern wird. Wohl jeder von uns hütet in seinem Herzen einen solchen besonderen Moment, ein Erlebnis, eine Begegnung mit der Ewigkeit. All diese großen Worte können trotzdem nicht einmal ansatzweise beschreiben, was ich empfand, als ich 2013 den Salto Ángel besuchte. Den höchsten Wasserfall der Welt in Venezuela.
Damals reiste ich im Auftrag der „Deutschen Welle“ durch Südamerika, Venezuela war meine erste Station. Schnell stieß ich bei meiner Suche nach einem nicht unbedingt alltäglichen Sightseeing-Ziel auf den Salto Ángel. 978 Meter reine Naturgewalt, die sich mitten im immergrünen Canaima-Nationalpark von einem Auyantepui genannten Tafelberg in die Tiefe ergießt. Benannt nach einem US-amerikanischen Piloten namens Jimmy Angel, der ihn 1935 eher zufällig entdeckte.
Abenteuerlicher Flug
Nur der Bemühung meines Gastgebers Pablo war es zu verdanken, dass sich zwei Monate später dieses Hirngespinst tatsächlich vor mir materialisieren würde. Denn zum Salto Ángel zu reisen war auch damals schon nicht leicht. Pablo selbst hat ihn bis zum heutigen Tag nie mit eigenen Augen gesehen. Dennoch organisierte er für mich einen Flug über Puerto Ordaz im Nordosten des Landes. Das Abenteuer meines Lebens begann also in einer kleinen Propellermaschine für 20 Passagiere, von der ich mich immer noch frage, wie sie eigentlich heil landen konnte.
Irgendwann offenbarte sich in dem ewigen Grün des venezolanischen Dschungels eine kleine Narbe, die sich als sehr kurzer Landestreifen herausstellte. Ein Jeep brachte uns nach der Landung zu einer Art Basislager, wo wir ein Boot bestiegen. Zum Salto Ángel gelangt man entweder zu Wasser auf dem Churún-Fluss oder aber wiederum mit einem Flugzeug, das eher an ein Spielzeugmodell für Kinder erinnert. Der Weg zu Fuß zum höchsten Wasserfall der Welt würde mehrere Tage dauern. Nur der Hinweg, wohlgemerkt.
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Roman-Inspiration und Blockbuster-Drehort
Schon bald gibt es nur noch unser Boot und den Churún. Unvorstellbar, dass in dieser archaischen Gegend vor uns jemals andere Menschen gewesen sein sollen. Aus dem dichten Dschungel ragen immer wieder die Tepuis, gigantische Tafelberge, von nicht wenigen von ihnen stürzen sich Wasserfälle in die Tiefe. Wir, die keine Ahnung haben, wohin die Reise uns führen wird, fragen immer wieder: „Ist das da hinten jetzt schon der Salto Ángel?“ Worauf der Guide jedes Mal lacht und sagt: „Keine Angst, ihr merkt, wenn wir da sind.“
Hinter jeder Biegung des Flusses liegt ein neuer schier unbegreiflicher Anblick. Es ist, als hätte die Schöpfung an diesem Ort wirklich ihr Bestes gegeben, und dann einfach die Zeit angehalten. Ein Mitreisender sagt ehrfürchtig, er würde sich nicht wundern, wenn hier plötzlich ein Dinosaurier auftauchen würde. Und tatsächlich inspirierten der Canaima-Nationalpark und seine Naturwunder Arthur Conan Doyle zu seinem Roman „Die vergessene Welt“ von 1912. Jahrzehnte später drehte Steven Spielberg hier in der Gran Sabana (zu deutsch: Große Savanne) genannten Gegend Szenen seiner „Jurassic Park“-Reihe.
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Wie hoch ist eigentlich ein Kilometer?
Und dann liegt er tatsächlich vor uns, der höchste Wasserfall der Welt. Über den flachen Rand des Auyantepui stürzt irgendwo in unrealistisch aussehender Höhe ein gewaltiger Wasserstrom hinab, sein Rauschen wie ein permanentes Donnergrollen. Man hört den Salto Ángel lange, bevor man ihn sieht. Liefen die Kameras vorher heiß, glühen sie jetzt förmlich, nur aus größerer Distanz kann man die Kaskade überhaupt als Ganzes fotografieren.
Sich in Gedanken bildlich vorzustellen, wie lang ein Kilometer eigentlich ist, dürfte den meisten Menschen wohl schwer fallen. Aber haben Sie sich schon einmal überlegt, wie HOCH ein Kilometer ist? Jeder, der vor dem Salto Ángel steht, bekommt davon zumindest eine Ahnung. Von dort, wo er sich, nur noch als Sprühregen, in ein gewaltiges Becken ergießt, kann man seine Spitze schon nicht mehr sehen. Egal, wie sehr man den Hals streckt.
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Eine echte Naturgewalt
Wir bekommen nur eine kurze Audienz bei dieser Majestät, dann müssen wir zurück in unser Nachtlager, weil die Dunkelheit naht. Egal wie laut die Geräusche des Dschungels in der Nacht auch werden, das dumpfe Rauschen des Salto Ángel übertönt sie alle. Denn der Gigant gewinnt, eigentlich unvorstellbar, nochmals an Kraft, als es zu regnen beginnt.
Am nächsten Morgen liegt der Wasserfall in schwere, tief hängende Wolken gehüllt. Doch dass sein Wasservolumen nochmals zugenommen hat, kann man deutlich sehen. Ein paar Bilder gewährt er uns noch, bevor er sich wieder verhüllt. Dann müssen wir zurück in die „echte“ Welt, die ab jetzt um ein wahres Märchen reicher ist. Ihn hier im Dschungel zurückzulassen, in dem Wissen, dass man vermutlich niemals wieder kommen wird, fällt schwer.
Flug für die Ewigkeit
So schwer, dass ich am Ende gegen einen Aufpreis doch noch einmal den Spielzeug-Flieger besteige, um den Salto Ángel auch aus der Luft zu bewundern. Jeder kleine Windstoß rüttelt die Maschine gewaltig durch, sie schwankt gefährlich in einem aufkommenden Sturm. Doch der Pilot denkt nicht daran umzukehren, der Flug unter erschwerten Bedingungen ist für ihn eine ganz besondere Ehre.
Von einem Ende des Horizontes zum anderen erstreckt sich ein tiefgrüner Dschungel-Teppich, aus dem immer wieder wie Stalagmiten die Tepui-Tafelberge emporragen. Mit einem Alter von bis zu 1,7 Milliarden Jahren gehören sie laut „National Geographic“ zu den ältesten Gesteinsformationen auf der ganzen Welt. Der Blick aus der Vogelperspektive lässt den Betrachter noch ehrfürchtiger staunen ob der Großartigkeit der Natur, die sich genauso gut jemand ausgedacht haben könnte.
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Das Staunen vor der Krise
Unsere kleine Maschine kommt dem Salto Ángel dann noch einmal ganz nahe, bevor es endgültig Abschied nehmen heißt. Als ich kurze Zeit später ob starker Windböen fest davon überzeugt bin, unser Flugzeug müsse gleich abstürzen, bin ich nicht einmal sonderlich besorgt, so sehr staune ich immer noch. Den anderen Gästen geht es genauso, noch lange nach der letztlich sicheren Landung spricht niemand auch nur ein Wort.
Einen Tag später bin ich wieder in Caracas und bereite mich auf die Heimreise nach Deutschland vor. Der Besuch beim Salto Ángel war der sprichwörtliche Höhepunkt einer drei Monate langen Reise. Noch ahne ich zu diesem Zeitpunkt nichts von der tiefen Krise, die Venezuela bereits kurz danach erfassen würde. Bis heute hat sie sich ausgeweitet und zu einer humanitären Katastrophe ausgewachsen. Das an Erdölreserven reichste Land der Welt ist auch dasjenige mit der höchsten Inflation überhaupt, Millionen Menschen sind ins Ausland geflohen.
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Hoffen auf ein Ende
Umso mehr weh tut mir es, als ich um die Schönheit Venezuelas weiß. Unter den südamerikanischen Ländern ist es für mich so etwas wie ein Rohdiamant. Doch leider scheint das Land immer tiefer in die Misere zu rutschen, zumal weltweit die Medien längst wieder in andere Richtungen schauen. Internationale Fluglinien haben ihre Verbindungen nach Venezuela eingestellt, mein Freund Pablo ist vor mehreren Jahren zu seiner Familie nach Costa Rica geflüchtet.
Dabei ist Venezuela ein Land, das die besten Voraussetzungen hat, wieder zu prosperieren. Ich würde mir genau das sehr wünschen, denn das Reise-Abenteuer meines Lebens habe ich hier gefunden. Ein großer Traum wäre es, irgendwann mit Pablo zusammen zu sitzen und Erfahrungen auszutauschen. Erfahrungen über den Besuch beim Salto Ángel, dem höchsten Wasserfall der Welt.