
27. Januar 2025, 15:48 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Wie viel wirkliche Wildnis gibt es eigentlich noch in Deutschland? Sprich Gebiete, in denen sich die Natur ungestört durch Eingriffe vom Menschen selbst regulieren und entwickeln kann? Dieser Frage ist unter anderem die Heinz Sielmann Stiftung in einer Studie nachgegangen. Die Ergebnisse sind bislang eher überschaubar. Doch es gibt Hoffnung für Deutschlands Wildnis.
In unserer hoch technisierten Zeit gibt es nur noch wenige Orte auf der Welt, in die der Mensch noch nicht vorgedrungen ist. Nahezu überall übt er mittlerweile seinen – nicht selten leider auch schädigenden – Einfluss auf Natur und Umwelt aus. Auch hierzulande ist das nicht anders. Die „Initiative Wildnis“, bestehend aus 21 deutschen Naturschutzorganisationen, ist daher in einer Studie einer interessanten Frage nachgegangen: Wie viel wirkliche Wildnis gibt es eigentlich noch in Deutschland? Also Orte, an denen sich die Natur frei und weitgehend ungestört vom Einfluss des Menschen nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln kann?
Übersicht
Hintergrund der Studie war die bereits 2007 von der Bundesregierung ausgegebene „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“. Diese besagte, dass bis zum Jahr 2020 auf zumindest zwei Prozent der Fläche Deutschlands möglichst großflächige Wildnis-Gebiete geschaffen werden sollten. Als Untergrenze für die Größe dieser Natur-Oasen wurde eine Fläche von mindestens 1000 Hektar ausgegeben. Bei Auen, Mooren, Seen und Küstenlandschaften war die Untergrenze mit mindestens 500 Hektar angegeben. Das Projekt wurde vollmundig als „Zwei-Prozent-Wildnisziel“ ausgegeben. Die Ergebnisse der kürzlich erschienenen Studie sind jedoch eher ernüchternd.
„Noch weit entfernt“ vom Ziel
Denn wie die „Initiative Wildnis“, zu der unter anderem die renommierte Heinz Sielmann Stiftung, Greenpeace und WWF Deutschland gehören, feststellte, wurde das Zwei-Prozent-Ziel offenbar deutlich verfehlt. Demnach ergab eine Zusammenrechnung aller deutschen Wildnis-Gebiete, dass deren Gesamtfläche aktuell gerade einmal 0,62 Prozent beträgt. Mit in den nächsten Jahren konkret geplanten Gebieten könnte diese Zahl auf immerhin 0,73 Prozent steigen. Diese Bilanz wurde durch die Heinz Sielmann Stiftung, die Naturstiftung David und die Zoologische Gesellschaft Frankfurt erstellt.
Und diese geben sich trotz der klaren Zahlen optimistisch. So sagte Dr. Heiko Schumacher, Leiter des Bereichs Biodiversität bei der Heinz Sielmann Stiftung, bei der Vorstellung der Wildnis-Studie: „Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass wir trotz der Bemühungen von Bund und Ländern sowie der Beiträge von Naturschutzorganisationen von der Umsetzung des Zwei-Prozent-Wildnisziels in Deutschland noch weit entfernt sind. Unsere Hochrechnungen zeigen jedoch auch, dass sich auf weiteren 1,67 Prozent der Landesfläche großflächige Wildnisgebiete etablieren lassen und damit das Zwei-Prozent-Ziel sogar übertroffen werden könnte.“
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Mecklenburg-Vorpommern ist Spitzenreiter

Demnach seien einzelne Bundesländer wie vor allem Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg jeweils kurz vor der Erreichung der angestrebten Zwei-Prozent-Hürde. Ersteres ist aktuell deutschlandweit mit Abstand Spitzenreiter und verfügt über einen Wildnis-Bestand von 37.912 Hektar, was einen Anteil von 1,63 Prozent an der Gesamtfläche ausmacht. Durch kurz- bzw. langfristig angelegte Schutzprojekte soll dieser Anteil in Zukunft auf 47.465 Hektar steigen, was 2,01 Prozent entspräche. In Brandenburg sind es aktuell 33.880 Hektar Wildnis, insgesamt 1,14 Prozent der Gesamtfläche des Bundeslandes. Schlusslicht ist Baden-Württemberg mit aktuell nur 7638 Hektar Wildnis. Das entspricht gerade einmal 0,21 Prozent der Landesfläche.
Auf der Website „Wildnis in Deutschland“ gibt es eine interaktive Karte, auf der man sich alle aktuell in Deutschland bestehenden Wildnis-Gebiete anschauen kann. Mit einem Klick auf den jeweiligen Button kann man dann auch mehr über das ausgewählte Reservat erfahren. Zum Beispiel, wie lange es bereits unter Schutz steht, und welche Art von Natur darin vorkommt. Weiterführende Links informieren ggf. auch über die Möglichkeiten, diese Gebiete einmal selbst bei einem Ausflug zu erkunden. Sämtliche Schutzzonen sind mit einem kurzen Steckbrief in alphabetischer Reihenfolge übersichtlich auf der Seite vertreten.

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Initiatoren sind optimistisch
Die Potenzialanalyse kommt abschließend zu einem positiven Feedback. Demnach sei es durchaus nicht unrealistisch, mit allen auch langfristig geplanten Projekten in der Summe auf eine deutschlandweite Wildnis-Gesamtfläche von 857.930 Hektar zu kommen. Dies entspräche 2,40 Prozent der Fläche unseres Landes. Adrian Johst, Geschäftsführer der Naturstiftung David, sagte dazu bei der Vorstellung der Bilanz: „Wir sind optimistisch, dass Deutschland dem Zwei-Prozent-Wildnisziel in den nächsten Jahren immer näherkommen wird. Mit dem Förderprogramm Wildnisfonds und der Förderrichtlinie KlimaWildnis im Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz ist es inzwischen auch für Privatpersonen lukrativ, Wildnis zu schaffen.“
Die Initiatoren der Studie stellen klar: Neben natürlichen Lebensräumen könne Wildnis auch auf stark vom Menschen geprägten Flächen entstehen – wie beispielsweise ehemaligen Bergbau- und Militärflächen. Damit sich natürliche Prozesse in ihren vielfältigen Ausprägungen wirksam entfalten könnten und Konflikte mit der angrenzenden Kulturlandschaft minimiert würden, bedürfe es möglichst großer und zusammenhängender Gebiete. Die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ sieht außerdem vor, dass sich der deutsche Wald zukünftig auf fünf Prozent der Landesfläche natürlich entwickeln können soll. Die Europäische Biodiversitätsstrategie fordert darüber hinaus bis zum Jahr 2030 auf zehn Prozent der Landesfläche einen „strikten Schutz“.
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Die Studie zeigt: Bei den bereits bestehenden Wildnis-Gebieten dominieren als Lebensräume Nadelwald (34,3 Prozent), Laubwald (24,9 Prozent), Mischwald (8,0 Prozent) und natürliches Grasland (5,3 Prozent). Der Großteil der Fläche ist im Besitz der jeweiligen Bundesländer (76 Prozent), gefolgt von Stiftungsflächen (9,4 Prozent) und Bundesflächen (8,9 Prozent). Die restlichen 5,7 Prozent verteilen sich auf verschiedene Eigentümer wie u.a. Vereine, Gesellschaften, Privatpersonen und Kommunen. Für das Projekt wurden erstmals alle bestehenden und zukünftig geplanten großen Wildnis-Gebiete in Deutschland erfasst und bilanziert.