16. August 2023, 6:59 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Mitten in der sibirischen Taiga klafft seit den 1960er-Jahren ein riesiges Loch in der Erde, das immer weiter wächst. Einheimische nennen es ehrfürchtig das „Tor zur Unterwelt“. Es ist Zeichen einer dramatischen Veränderung, die sich weltweit abspielt und zugleich Quelle wertvoller Informationen für Wissenschaftler.
Die Region Werchojanski in Sibirien ist ein unwirtlicher Ort. Im Nordosten von Russland, in der Republik Sacha (Jakutien), ist es fast das ganze Jahr über kalt. Klirrend kalt. Klimatisch gesehen gilt die Region Werchojansk sogar als „Kältepol“ der nördlichen Hemisphäre, im Winter fällt die Temperatur hier auf bis zu minus 68 Grad Celsius. Die Höchsttemperaturen im Sommer liegen im Schnitt bei 13,7 Grad Celsius. Doch als sei diese Umwelt nicht schon menschenfeindlich genug, gibt es noch ein weiteres Problem. Inmitten der Region befindet sich, nach dem Ort Batagai, ein gigantisches Loch inmitten der Erde – der Batagaika-„Krater“. Er ist mindestens 950 Meter lang und mehr als 80 Hektar groß – das entspricht etwa 112 Fußballfeldern. Dank dieser beängstigenden Dimensionen wird der Krater von den Einheimischen auch das „Tor zur Unterwelt“ genannt.
Tatsächlich handelt es sich aus rein wissenschaftlicher Sicht ebenso wenig um ein „Tor“ wie um einen „Krater“, sagt Dr. Thomas Opel vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Potsdam, der schon zwei Mal selbst, 2017 und 2019, persönlich vor Ort war. Er erklärt TRAVELBOOK: „Ein Krater entsteht wissenschaftlich definiert nur nach einem Vulkanausbruch oder Meteoriteneinschlag.“ Korrekt handele es sich um eine „Taurutschung an einem Hang“. Im Englischen wird die Stelle als „Megaslump“ bezeichnet, was in etwa mit „Mega-Absenkung“ zu übersetzen wäre. Das gigantische Loch von Batagaika sehe aber, das gibt Opel zu, einem Krater ähnlich, insofern sei eine solche Bezeichnung zumindest nicht komplett abwegig.
Mit welcher Bezeichnung auch immer: Fakt ist, dass der Batagaika-„Krater“ seit er in den 1960er-Jahren entstand, immer weiter wächst und alles in seiner unmittelbaren Umgebung verschlingt. Im Schnitt vergrößert er sich um 10 bis 30 Meter pro Jahr. Opel schätzt, dass der sogenannte „Megaslump“ allein von 2019 bis 2021 um 50 Meter gewachsen ist. Hierfür gibt es eine einfache wissenschaftliche Erklärung.
So entstand der Batagaika-„Krater“
Die Ursache für das stetige Wachstum des Batagaika-Kraters liegt nämlich im immer rasanteren Abtauen der in dieser Gegend zu findenden Permafrostböden, die außergewöhnlich alt und auch besonders empfindlich sind, wie Opel und ein Team internationaler Forscher im Jahr 2021 herausfanden. Tatsächlich kam man zu dem Schluss, dass die tiefsten Permafrost-Schichten in der Region sogar ca. 650.000 Jahre alt sind. „Damit wissen wir, dass der Permafrost von Batagaika natürliche Wärmeperioden in der geologischen Vergangenheit überdauert hat“, sagt Sebastian Wetterich, ebenfalls vom AWI, zu den Ergebnissen. Normalerweise sind diese Böden, die zum Großteil aus Wasser bestehen, nämlich dauerhaft gefroren, wie der Name bereits vermuten lässt. Doch aktuell tauen immer mehr Permafrostböden weltweit auf. Eine Folge der Klimaerwärmung und „anderer menschliche Einflussnahme an der Oberfläche“, so Wetterich.
So entstand auch der „Krater“ von Batagaika. In der Gegend um den Krater hatte man in den 1960er-Jahren massiv Bäume abgeholzt. Dadurch lag der Boden darunter, der sich vorher im Schatten eben der Bäume befand, nun frei und war ungeschützt der Strahlung der Sonne ausgesetzt. Das eigentlich dauerhaft gefrorene Eis schmolz und wurde zu Wasser, die oberen Erdschichten begannen, in den auftauenden, weicheren Untergrund abzusinken. Im Laufe der Jahre bildete sich der mittlerweile riesige „Krater“. Dieser Prozess wird als Thermokarst bezeichnet.
Dass der „Krater“ aufhört zu wachsen, ist aktuell nicht abzusehen. Auch, weil es in der gesamten Region immer wärmer wird. „Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die durchschnittliche Jahrestemperatur in Batagai um etwa 2,4 Grad Celsius gestiegen und die mittlere Sommerlufttemperatur um etwa 1,6 Grad Celsius“, schreibt Opel in einem im Frühjahr 2023 veröffentlichten wissenschaftlichen Paper.
Katastrophale Auswirkungen
Problematisch ist das Schmelzen der Permafrostböden nicht nur, weil sich mitunter solche gigantischen Mulden bilden wie bei Batagai. Sondern auch, weil Permafrostböden normalerweise Schadstoffe im Eis und Boden binden. Wissenschaftler des AWI nehmen an, „dass der gefrorene Boden zwischen 1300 und 1600 Gigatonnen Kohlenstoff enthält. Zum Vergleich: Die gesamte Atmosphäre enthält derzeit rund 800 Gigatonnen Kohlenstoff.“
Tauen die Permafrostböden nun auf, wie es in der sibirischen Taiga und an zahlreichen anderen Orten auf der Welt aktuell der Fall ist, werden der Kohlenstoff als Kohlendioxid und auch andere Schadstoffe wie Methan freigesetzt. Sowohl Kohlenstoff als auch Methan tragen aber laut dem Umweltbundesamt durch ihren Anteil in der Atmosphäre einen sehr großen Teil zum menschengemachten Treibhauseffekt bei. Je höher ihre Konzentration, desto schneller werden in Zukunft vermutlich auch die Temperaturen steigen, mit den bekannten Folgen, die der Klimawandel weltweit hat.
Einzigartige Erkenntnisse dank des Batagaika-„Krater“
Wenn man dem „Tor zur Unterwelt“, der übrigens der größte und am schnellsten sich ausdehnende „Megaslump“ der Welt ist, etwas Positives abgewinnen möchte, dann, dass Forscher zahlreiche Kenntnisse aus ihm ziehen können. Das betrifft zum einen das Eis selbst, wie Opel erklärt: „An dem Eis kann man eine ganze Reihe von geochemischen Untersuchungen durchführen, die uns dann wiederum Rückschlüsse auf das Klima der Vergangenheit ermöglichen.“
Zum anderen bringen die auftauenden Permafrost-Böden immer wieder spannende Überreste zutage. So wurden bereits Baumstümpfe, Pflanzenüberreste und sogar Tierkadaver freigelegt. Diese lassen Aufschluss über die geologische Beschaffenheit der Landschaft in längst vergangenen Epochen zu.
Im Jahr 2018 haben Forscher hier sogar ein vollständig erhaltenes Fohlen aus der Eiszeit entdeckt. Forscher der Universität in Jakutsk schätzten das Alter des Pferdes auf 30.000 bis 40.000 Jahre. Durch den Permafrostboden ist das Tier perfekt konserviert worden, selbst die Haare waren noch intakt. „Auch die Weichteile, zum Beispiel der Mageninhalt, konnten noch untersucht werden – das ist ein wirklich einzigartiger Fund“, so Opel.
Forscher sind ratlos Riesige Krater auf russischer Insel entdeckt – woher kommen sie?
Matterhorn und Mont Blanc betroffen Klimawandel macht Wandern in den Alpen gefährlicher
Thwaites-Gletscher in der Antarktis Forscher in großer Sorge um neue Entdeckungen am „Weltuntergangs-Gletscher“
Wird es zukünftig noch weitere „Krater“ geben?
Tatsächlich könnte es in Zukunft noch weitere ähnlich faszinierende Entdeckungen geben. Denn da sich der Krater immer weiter ausdehnt, erwarten Wissenschaftler, dass der Megaslump weitere fossile organische Substanz freisetzen wird. Zudem wird vermutet, dass es nicht bei diesem „Krater“ in der Region bleiben wird. „Das Potenzial ist gegeben, dass ganz viele dieser „Slumps“ entstehen – wenn auch vermutlich nicht in diesem Ausmaß“, so Opel. „Das liegt daran, dass der Permafrostboden mit bis zu 80 Prozent hier sehr eishaltig ist. Wenn das Eis auftaut, haben wir sehr viel Wasser, das wegläuft, und der Boden sackt zusammen.“
Damit weitere „Krater“ entstehen, müsste allerdings auch, wie beim „Krater“ von Batagai, die Vegetation gestört sein. Denn, wie bereits erwähnt, führt der Wegfall von Bäumen zu einem deutlich schnelleren Auftauen. Handelt es sich um eine bewusste Abholzung, wie beim Batagaika-„Krater“, ist dieser Prozess aufzuhalten. Doch es gibt noch weitere Faktoren: „Auch Feuer ist ein Faktor. Wir haben in diesen Permafrost-Regionen, z.B. Sibirien oder Kanada, aktuell so massive Waldbrände, dass die Vegetationsdecke so gestört wird, dass auch der Permafrost beginnt, sich abzubauen“, erklärt Opel.
Auch interessant: Was tun, wenn es in meiner Urlaubsregion brennt?
Zudem ist laut dem Wissenschaftler übrigens zu erwarten, dass der Batagaika-„Krater“ zukünftig so stark anwächst, dass er sich in den nächsten Jahren mit dem angrenzenden Tal verbindet. Das könnte seine Wachtsumsdynamik wiederum beeinflussen – in welche Richtung, also ob größer oder kleiner, ist noch unklar. „Es kann sein, dass es einen großen Sprung gibt und das nächste Tal einfach Teil des Megaslumps wird, es kann aber auch sein, dass Schmelzwasser durch das neue Tal abfließt.“ Wie es mit dem „Krater“, der eigentlich gar keiner ist, weitergeht, bleibt also spannend.