27. Juni 2023, 11:15 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Bei Urwald denken Sie sofort an dichten Dschungel auf Borneo oder den Amazonas-Regenwald? Damit sind Sie sicher nicht allein. Dabei muss man gar nicht an das andere Ende der Welt reisen, um unberührte, wilde Natur zu erleben. Auch in Europa gibt es einige Gebiete, die (noch) Urwälder sind. TRAVELBOOK weiß, was einen Urwald ausmacht, wo man ihn noch in Europa findet und warum die besonderen Ökosysteme so bedroht sind.
Dichte Baumwipfel, die so nah beieinanderstehen, dass nur vereinzelt Licht durchdringt, umgefallene Bäume, die von Moos überzogen und Heimat unzähliger Tiere sind – so können Wälder sein, wenn der Mensch sie sich selbst überlässt. Eigentlich, ohne menschlichen Einfluss, würde es in Europa und vor allem Deutschland fast überall so aussehen. „In solchen Wäldern gibt es Eichen oder Kiefern, die bis zu 1000 Jahre alt werden, oder Buchen, die mehrere hundert Jahre alt sind. Diese Bäume machen verschiedene Lebenszyklen durch, werden irgendwann, in späten Jahren, auch von Pilzen und Totholzkäfern befallen und so zu einem eigenen kleinen Ökosystem“, erklärt Albert Wotke, Biologe und seit neun Jahren beim WWF und für Naturschutzgebiete in Deutschland verantwortlich. Doch: Dieses Ökosystem kann nie entstehen, wenn die Bäume, wie in Deutschland üblich, abgeholzt werden.
„96,5 Prozent der Wälder in Deutschland sind Holzacker“, so Wotke. „Das heißt, die Bäume werden hier nach 90 bis 100 Jahren ‚geerntet‘.“ Neben dem Abholzen wird oft auch im Wald gejagt. Weitere Faktoren, die dazu führen, dass ein Wald kein Urwald ist, sind die Infrastruktur, also ob eine Straße das Waldgebiet durchzieht, und der Zeitraum, in dem die Wälder sich selbst überlassen wurden. Denn auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei ein Wald komplett unbewirtschaftet, handelt es sich meistens noch lange nicht um einen Urwald.
Was unterscheidet einen Wald von einem Urwald?
Grundsätzlich gibt es verschiedene Begriffe für Urwälder: So sprechen die einen von Primärwäldern, die anderen hingegen von „Old Growth Forests“ oder von „Virgin Forests“, also „jungfräulichen Wäldern“. In jedem Fall müssen für einen klassischen Urwald mehrere Kriterien erfüllt sein. „Der Wald muss vor allem struktur- und artenreich sein, einen hohen ökologischen Wert haben und einen bestimmten Anteil an Totholz haben“, erklärt Jana Ballenthien, Waldexpertin von der Naturschutzorganisation „Robin Wood“. Strukturreich heißt dabei nichts anderes, als dass es viele unterschiedlich alte Bäume gibt – auch solche, die mehrere hundert Jahre alt sind.
Biologe Wotke betont: „Es reicht nicht, den Wald 100 Jahre lang Wald sein zu lassen, damit er ein Urwald wird.“ Um wahre Urwälder zu erkennen, wird viele Jahrhunderte in die Vergangenheit geschaut – entweder mithilfe von Bodenproben oder von Dokumenten. Wotke erklärt: „Findet man in Bodenproben Samen von bestimmten Pflanzen, etwa Fingerhut oder Brombeeren, kann man davon ausgehen, dass es hier schon einmal einen Kahlschlag gab. Das spricht gegen einen Urwald.“ Denn nur wenn ein Waldgebiet tatsächlich noch nie bewirtschaftet wurde, ist es im biologischen Sinne ein Urwald. Deshalb werden auf der Suche nach Urwäldern auch Biologen mitunter zu Historikern. „Mit Dokumenten, die in Deutschland vielfach für Adlige schon im frühen Mittelalter ausgestellt wurden, lässt sich Forstwirtschaft ebenfalls erkennen“, so Wotke.
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Gibt es in Deutschland und Europa überhaupt noch Urwälder?
In Deutschland gibt es heute nur sehr wenige Flächen, in denen der Wald nie wirtschaftlich genutzt wurde. „Nur insgesamt etwa 100 Hektar sind seit vielen Jahrhunderten wirklich unberührt“, weiß Ballenthien. Diese Flächen sind zudem nicht zusammenhängend. Meist handelt es sich um kleine Flecken, die nur ein bis zwei Hektar groß sind und sich an Orten befinden, die schlicht nicht bewirtschaftet werden konnten. Dazu gehören zum Beispiel Wälder an Steilhängen oder im Hochgebirge.
Zwar gibt es einige Wälder in Deutschland, die mitunter als Urwälder bezeichnet werden, etwa der Nationalpark Hainich, nahe Eisenach, oder der Buchenwald im Nationalpark Jasmund auf Rügen. Diese Wälder haben einen sehr alten Baumbestand und werden heutzutage, teils seit Jahrzehnten, nicht mehr bewirtschaftet. Andernorts gibt es kleine Teilbereiche, die als „Urwälder“ beworben werden, etwa der Urwaldsteig am Edersee. Doch: „Der biologischen Definition eines Urwalds entspricht das nicht“, betont Ballenthien.
Urwälder in Europa sind akut bedroht
Ganz Europa betrachtend, sieht die Situation hingegen anders aus. Hier gibt es sie tatsächlich noch – unberührte weite Wälder, die ganz der Natur überlassen sind. Die letzten Urwälder Europas befinden sich dabei vor allem in zwei Gebieten: in Skandinavien und in Osteuropa, vorwiegend in den rumänischen Karpaten.
Doch die wenigen Urwälder, die es noch in Europa gibt, sind akut bedroht. So heißt es in einer, bis heute relevanten, Studie zum Stand der Urwälder in Europa aus dem Jahr 2018, dass nur 4 Prozent der Waldflächen in Europa noch ungestörte Primärwälder seien. Zudem sei „dieser geringe Anteil an ungestörten Wäldern“ oft nicht richtig verzeichnet und gehe „in alarmierendem Tempo verloren“.
Waldexperte Wotke weiß, warum. „Es gibt zwei große Probleme: Zum einen die Waldkriminalität, also, dass in eigentlich geschützten Wäldern abgeholzt oder gejagt wird. Zum anderen die reguläre Forstwirtschaft, die zum Beispiel in Schweden oder Finnland ganz anders ist, als bei uns.“ So sei es gerade bei diesen borealen Nadelwäldern mitunter „erschreckend“, wie drastisch große Gebiete abgeholzt werden.
Holzmafia und illegale Abholzungen
Problematisch ist auch, dass gerade das Holz aus Urwäldern besonders begehrt in der Industrie ist. „Die Bäume in diesen Wäldern konnten Jahrhunderte unberührt wachsen und sind deswegen oft sehr groß und sehr stabil“, weiß Jana Ballenthien. „Das ist für quasi Deluxe-Holz.“ Deshalb ist eine Rodung der Wälder vielfach sehr profitabel, zum Teil bilden sich sogar mafiöse Kartelle, etwa in Rumänien, wie auch der „Deutschlandfunk“ berichtet. In einer exklusiven Vor-Ort-Recherche berichtete der „Spiegel“ 2022, dass bis zu 30 Prozent des weltweit gehandelten Holzes aus illegalen Quellen stammten, wobei es in Rumänien sogar mehr als die Hälfte sei. Die Leidtragenden sind in erster Linie die Wälder und ihre außergewöhnlichen Ökosysteme.
Auch in unserer direkten Nachbarschaft ist ein beispielloser Urwald zu finden. In Polen befindet sich mit Bialowieża der letzte Tieflandurwald in Europa. Zwar sind Teile des Waldes für die Allgemeinheit unzugänglich, bei der schieren Größe des Gebiets ist das jedoch fast unwichtig. Bialowieża umfasst mehr als 150.000 Hektar und reicht von Polen bis nach Belarus, in dem Wald sind 20.000 Tierarten zu Hause. Dennoch wurde er jahrelang massiv gerodet – bis schließlich Tier- und Naturschützer den Fall vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) brachten, um eine weitere massive Abholzung zu verhindern. Zunächst schien es, als hätten sie Erfolg: 2018 entschied EuGH, dass eine weitere Abholzung illegal sei. Dennoch kam es Berichten zufolge immer wieder zu Rodungen.
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Wo man naturbelassene Wälder noch erleben kann
In Deutschland werden die Wälder indes deutlich besser geschützt. Doch auch hierzulande gibt es noch deutlichen Aufholbedarf. Zukünftig möchte man sich vor allem für neue, naturbelassene Wälder einsetzen. So hat der WWF das Ziel, dass in Zukunft auf 2 Prozent der Fläche in Deutschland wieder Urwälder zugelassen werden. Aktuell sind es lediglich 0,6 Prozent.
Zu den bereits bestehenden Orten gehören unter anderem die seit 2011 auf der Weltnaturerbe-Liste stehenden fünf geschützten Buchenwälder in Deutschland und die Thüringer Urwaldpfade. Hier wurden 16 Urwaldpfade erarbeitet – die man beim Wandern ganz frei erleben kann. Tatsächlich ist lediglich das bewirtschaften und jagen in den Wäldern verboten. Der Zugang zur heimischen Natur ist mitunter, etwa in Bayern, sogar in der Verfassung verankert. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum die Wälder allen zugänglich sein sollten. Zumindest, wenn es nach Albert Wotke geht: „Nur was man kennt, das will man auch schützen.“