2. Dezember 2019, 15:31 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Seit Jahrzehnten ist die Stadt verstrahlt, trotzdem leben in Osjorsk noch immer rund 80.000 Menschen – und zwar freiwillig. Sie sind sogar stolz auf ihre Heimat. Dabei gilt die Stadt als Geburtsort der russischen Atombombe, und seit ihrer Entstehung gab es hier mehrere massive radioaktive Unfälle.
Am 29. September 1957 strahlte der Himmel über der russischen Stadt Osjorsk so ungewöhnlich blau-lila, dass die lokale Presse vermutete, es handele sich um Nordlichter – was aufgrund der Lage der Stadt sehr erstaunlich gewesen wäre. Die Wahrheit jedoch war eine andere, eine schreckliche: In der etwa sieben Kilometer entfernten Fabrik „Majak“ hatte es einen folgenschweren Unfall gegeben. Denn was hier „produziert“ wurde, war absolut tödlich. Die Folgen sind für die Bewohner von Osjorsk noch heute spürbar und machen sie krank. Doch sie sind weiter stolz auf ihre Stadt.
Osjorsk, im russischen Verwaltungsbezirk Tscheljabinsk gelegen, wurde laut der britischen Zeitung „Guardian“ ab 1946 als Planstadt rund um das bereits bestehende Kraftwerk Majak gebaut – dem späteren Geburtsort der ersten russischen Atombombe. Woran hier gearbeitet wurde, sollte keiner je erfahren, weshalb in den ersten acht Jahren niemand die Stadt verlassen durfte. Auch die Kontaktaufnahme zur Außenwelt war verboten, selbst zu Familienangehörigen. Sebastian Pflugbeil, Vorsitzender der Gesellschaft für Strahlenschutz e. V. sagte dazu auf Anfrage zu TRAVELBOOK: „Die Russen haben ihre Atomforschung damals streng geheim gehalten, deshalb durften die Leute auch nicht aus solchen Komplexen raus.“ Um die Bewohner von Osjorsk, viele davon Forscher und ihre Familien, bei Laune zu halten, schuf man für sie eine abgeschottete kleine Welt voller Luxus.
Kaviar und Bananen
Während der Großteil des Landes in Armut lebte, habe es in Osjorsk für die Bewohner alles im Überfluss gegeben, auch exotische Delikatessen wie Kaviar und Bananen waren verfügbar, dazu gute Schulen für die Kinder, ein breit gefächertes kulturelles Angebot, und, reichlich bizarr, auch Gesundheitsvorsorge. „Diese Menschen waren besser versorgt als die normale Bevölkerung“, so Pflugbeil zu TRAVELBOOK. „Sie haben auch besser verdient als der Durchschnitt.“ Dabei hätten die Bewohner von Osjorsk laut „Guardian“ immer gewusst, was in ihrer Stadt passierte. Dem widerspricht Pflugbeil: „Die Menschen hier wurden nie über die Vorgänge informiert, auch nicht über das Ausmaß der radioaktiven Verseuchung.“ Mit anderen Worten: Sie wussten zwar, dass irgendwas vor sich geht, aber was genau und welche gesundheitlichen Gefahren damit einhergingen, darüber wurden sie im Unklaren gelassen. Der „Unfall“ von 1957 blieb kein Einzelfall, berichtet der „Guardian“. Insgesamt habe das Majak-Kraftwerk in der Zeit seines Bestehens viermal so viel radioaktive Strahlung und Abfall produziert wie die Tschernobyl-Katastrophe.
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Bereits seit dem Ende der 1940er-Jahre häuften sich die strahlungsbezogenen Todesfälle, aber das und auch der Vorfall von 1957, der bis zur Reaktor-Schmelze in Tschernobyl das schlimmste atomare Unglück weltweit war, wurden von der Sowjet-Regierung vertuscht. Eine der Geschichten hat Pflugbeil von einem Arzt gehört, der damals an den Forschungen rund um Osjorsk und seine Bewohner beteiligt war: „Sie kamen also in die Häuser der Menschen dort, und die Geigerzähler fingen an verrückt zu spielen. Zuerst konnte man sich das überhaupt nicht erklären, doch dann stellt man fest, dass die Quelle der Strahlung die Samoware waren, in denen die Menschen ihr Teewasser heiß hielten. Dieses Wasser stammte aus dem Fluss Tetscha, der extrem verseucht wurde.“ Pflugbeil zitiert noch einen weiteren Fall, bei dem weibliche Strafgefangene eines nahen Arbeitslagers einen Reaktor mit bloßen Händen auseinander nehmen mussten: „Damals sind mehrere tausend Menschen jämmerlich krepiert.“ Und das war erst der Anfang einer menschlichen wie ökologischen Katastrophe.
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Osjorsk gilt als einer der verstrahltesten Orte der Welt
Noch heute darf niemand die Stadt ohne besondere Erlaubnis des russischen Geheimdienstes betreten – der iranisch-amerikanischen Filmemacherin Samira Goetschel ist es jedoch gelungen, Osjorsk inkognito zu besuchen. Ein Erlebnis, dass sie in dem Dokumentarfilm „City 40“ festgehalten hat, der dieses Jahr für einen Emmy in der Sparte „News & Documentary“ nominiert war. In der „Huffington Post“ schreibt, den Leuten sei damals gesagt worden, sie seien ein „nuklearer Schild“ und „Retter der Welt“. Dafür akzeptieren sie bis heute, hinter Zäunen aus Stacheldraht zu leben wie Gefangene – als die sie sich aber nicht fühlen, im Gegenteil: Die Bewohner sähen sich laut „Guardian“ als „Privilegierte“, die „das Beste von allem umsonst“ bekämen.
Im Übrigen könnte jeder Einwohner jederzeit Osjorsk verlassen, nur wollten das die meisten gar nicht. Pflugbeil erklärt dieses Phänomen so: „Die Leute hier waren ja sehr einfach und hätten oft auch gar nicht das Geld gehabt, um wegzuziehen, selbst wenn sie gewollt hätten.“ Doch tatsächlich habe auch der Faktor Stolz dabei wohl eine Rolle gespielt: „Menschen, die damals dort gearbeitet haben, verklären ihre Rolle oftmals, das ist ja in anderen Ländern auch nicht anders. Viele sind stolz auf Atomkraft, und dafür wird über eventuelle Schäden bereitwillig hinweggesehen.“ Die Folgen der Verstrahlung der Region sind Krankheiten und Todesfälle.
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Geheimgehaltene Katastrophe
Die nukleare Katastrophe von 1957, heute als „Kyshtym Unfall“ bekannt, wurde übrigens erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wirklich bekannt. Wie Max Rabl, Absolvent der Ludwig-Maximilians-Universität München und Autor einer Abhandlung zu dem Thema schreibt, wussten die USA zwar bereits seit etwa 1960 davon – hielten den Fall aber ebenso wie das russische Regime geheim, um die eigenen Atombombenpläne nicht unwillkommener Kritik und Fragen aussetzen zu müssen.
Übrigens: Der Geburtsort der russischen Atombombe ist heute eine Wiederaufbereitungsanlage – für Kernbrennstoff.