3. April 2018, 10:39 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Rund um die wohl schönste Stadt der Welt erstreckt sich eine stillgelegte Eisenbahnstrecke auf 32 Kilometern. Wer die „Petite Ceinture“ abgeht, entdeckt geheime Gärten, Streetart und ein Viadukt voller Kunstboutiquen. Ein Rundgang.
Auf den Mauern ringelt sich Stacheldraht, die meisten Zugänge sind verbarrikadiert. Aber es gibt auch Stellen auf der Pariser Petite Ceinture, die einen Spalt offen stehen: ein halb ausgehebeltes Tor aus verrostetem Schmiedeeisen, manchmal nur ein unscheinbares Loch im Maschendrahtzaun. Egal wie man sie betritt: Es ist illegal, auf die Hochbahn zu klettern und ihre verlassenen Bahngleise zu erkunden. Natürlich hält das die Pariser aber nicht davon ab. Die Ceinture ist einer der letzten wilden Orte der sonst so gnadenlos zugebauten Île-de-France.
Seit 1934 eine Geistertrasse
Der Personenverkehr auf der Eisenbahnstrecke, deren Name auf Deutsch so viel wie „Der kleine Gürtel“ bedeutet, wurde bereits 1934 stillgelegt. Einst verband sie die wichtigsten Kopfbahnhöfe der Stadt wie den Gare du Nord und den Gare de Lyon miteinander, doch die Erweiterung der Pariser Metro machte die Strecke überflüssig. Einige der Bahngesellschaften, die an der Ceinture beteiligt waren, gingen bankrott, die Schienen wurden stillgelegt. Seitdem führt eine Geistertrasse quer durch die Hauptstadt Frankreichs.
Blumen und Efeu wuchern an ihren Zäunen empor, Graffiti pflastern die zahlreichen Tunnel und Brücken, die das Viadukt durchbrechen. In großen Teilen ist die Hochbahn komplett von Bäumen oder zugewachsenen Zäunen umgeben. Gerade an einem verkehrsarmen Sonntag wähnt man sich fern der Stadt. Man trifft nur wenige Menschen, aber sehr viele von den Zeugnissen früherer Besucher. Meist gegenüber der Bahnhofsruinen der alten Stationen findet man abgewetzte Sofas, Stühle, Eimer und Zelte; ehemalige Stromkästen wurden mit leuchtendem Metallpapier und bunten Mosaiksteinen in Dekoration verwandelt. Die Wohnzimmer der Sprayer stehen unter freiem Himmel.
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Späht man durch eines der Quadrate des Maschenzauns, kann man Martial-Arts-Kämpfern zusehen, die am Rande der Ceinture trainieren und im Chor Kungfu-Schreie ausstoßen. Cliquen treffen sich, um HipHop zu hören, die Silhouetten von verliebten Pärchen schimmern zwischen den Blätterdächern hindurch. Eine Kurve weiter reißt der Zaun plötzlich auf und gibt die Sicht auf die Straßen von Paris frei.
Teilweise führt die Strecke mitten durch den Kern der Stadt, von oben kann man unbemerkt das Treiben der Passanten, die Blumen- und Trödelmärkte und die Straßenmusiker beobachten. Die Ceinture zeigt alle Gesichter der französischen Hauptstadt: den Chic der Jugendstilhäuser und gotischen Kirchen, aber auch die Betonblöcke der Außenbezirke und Vorstädte. In den blickgeschützen Brachen neben den Schienen haben Obdachlose ihre Zelte aufgeschlagen, auch in diesen kleinen Camps sind die Wäscheleinen und Campingstühle mit Mobiles und Kreide verziert. Was alle Teile der Strecke miteinander verbindet, ist die Streetart. Von großen Murals bis zu kleinen, fast unsichtbaren Kunstwerken aus Glasperlen findet man auf der Eisenbahnstrecke alles.
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Obwohl die Trassen der Hochbahn so weitläufig sichtbar sind, muss man sie trotzdem aufmerksam verfolgen, bis man einen Zugang findet. Einer davon befindet sich auf der Höhe der Rue de Pyrénées 129 im 20. Arrondissement, in der Nähe des berühmten Friedhofs Père Lachaise, auf dem Jim Morrison begraben liegt. An der Hauswand hinter den Gleisen klettert ein riesiger Salamander aus Stein empor und reckt seinen Hals zur Seite: Er kennzeichnet den Eingang für Eingeweihte.
Gartenkommunen und Festivals
Aber auch echte Fauna und Flora bevölkert die Ceinture: Über 200 Arten verschiedene Pflanzen und Tierarten kann man hier finden. Rédas, ein Chronist der verborgenen Orte von Paris, nannte die Petite Ceinture daher „un des plus vastes et plus secrets jardins de Paris“, „einen der großflächigsten und geheimsten Gärten von Paris“. Auf zahlreichen Teilen der Strecke haben Anwohner damit begonnen, Gemüse und Obst anzubauen, und in einem ehemaligen Bahnhof der Strecke an der Rue du Ruisseau wurde eines der angesagtesten Cafés der Stadt eröffnet, die Recyclerie. Der unmittelbare Teil der Schienen, der an ihr vorbeiläuft, haben die Pariser in die Ruisseau-Gärten verwandelt: Hier werden Musik-Festivals wie das Clignancourt gefeiert, Blumen gezüchtet, alte Geräte und Fahrräder recyclet und Hühner gehalten.
Adresse von La Recyclerie: 83 Boulevard Ornano, 75018 Paris
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Das Viadukt der Künste
Ein besonderer Abschnitt der Ceinture ist der Coulée Verte, der „Grüne Guß“, ein komplett von Architekten, Gärtnern und Künstlern gestalteter 4,5 Kilometer langer Wanderweg, der auf dem Viaduc des Arts an der Avenue Daumesnil verläuft. In den 71 Arkaden aus rotem Ziegelstein kann man durch etwa 50 Kunstboutiquen schlendern. Unter anderem sind hier zu bestaunen: wie Rosen geformte Lampen, eine Boutique nur für Regenschirme, wie aus der Zeit gefallene Schuster und eine riesige Halle voller Konzertflügel. Nicht wirklich etwas für den kleinen Geldbeutel. Aber wunderbar, wenn man sich ein Kuriositäten-Schaufensterbummel gönnen will.
Noch viel interessanter und völlig umsonst ist jedoch der Weg über die Arkaden entlang: Durch wunderschöne, bepflanzte Pegolen und Blumenbögen, Globen aus Stein und Bambusstauden kann man hier stundenlang schlendern. Im Sommer gibt es Wasserbassins, die ebenfalls von Blumen umringt sind. Schwimmen darf man dort leider nicht. Wer den Coulée Verte aktiv erleben will, muss seine Inliner oder Longboards einpacken.
Der urbanere Teil der Strecke führt vom Viadukt hinab durch die ehemaligen Eisenbahntunnel hindurch. Die perfekte Skate-Strecke. In den Tunneln haben sich die Künstler wieder ausgetobt: Neben Skulpturen, Plastiken und Gemälden stehen hier aber auch Fitnessgeräte zur freien Benutzung, Spielplätze für Kinder und kleine Biotope zum Selbstanbau zur Verfügung der Pariser. Skater und Sprayer treffen hier auf Familien, Rentner, Jogger und Flaneure. Die Coulée Verte ist der bekannteste Teil der Petite Ceinture, da sie bereits komplett gestaltet wurde.
Doch auch für den Rest der riesigen Strecke gibt es Pläne der Stadt: In Kooperation mit dem SNCF, der staatlichen Eisenbahngesellschaft Frankreichs, sollen zwischen 2018 und 2025 auf dem Teil der größeren Ceinture, der die Coulée Verte kreuzt, weitere Gärten und Kunstprojekte entstehen. Bereits jetzt sind an der gesamten Strecke entlang Plakate und Informations-Hütten in Neonfarben gesprossen, die die Pariser zur Mitgestaltung motivieren wollen. Eine Warnung für besonders erkundungsfreudige Paris-Touristen: Außerhalb der Coulée Verte sollte man die Eisenbahntunnel auf der Strecke meiden. Sie sind nicht beleuchtet und voller Ratten. Die Ceinture ist eben nicht die Champs-Élysées.