7. April 2015, 10:04 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Unfall, Selbstmord – oder Mord? Das tragische Ende des Malers Vincent van Gogh vor 125 Jahren ist bis heute ein Rätsel. Jeder mag seine eigenen Schlüsse ziehen, wenn er in Auvers-sur-Oise die Originalschauplätze des Dramas besucht.
Es ist nur ein leerer Raum. Ein kleiner leerer Raum mit einem Stuhl und einem Dachfenster. Und doch beginnen manche Leute hier zu weinen. Sie sind von weit hergekommen, um dieses Zimmer zu sehen. Die Dachkammer in Auvers-sur-Oise, in der Vincent van Gogh vor 125 Jahren starb.
Sonntag, der 27. Juli 1890, war ein heißer Sommertag. Deshalb fiel es gleich auf, als sich der Holländer abends mit zugeknöpfter Jacke auf sein Zimmer im Gasthof Ravoux schleppte. „Er hielt sich den Bauch und hinkte irgendwie“, erinnerte sich später einer der Gäste. Der Wirt Gustave Ravoux fand die Sache merkwürdig und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, so wie dies auch die Besucher heute tun. Da lag Vincent schmerzverkrümmt auf seinem Bett. Was ihm fehle? „Je me suis blessé“, war die Antwort. „Ich habe mich verletzt.“ Er hatte eine Kugel im Bauch. Was in den fünf bis sechs Stunden zuvor genau geschehen war, ist bis heute ein Rätsel.
„Auvers ist sehr schön, wirklich durch und durch schön“, fand van Gogh. Seit er sich im Mai dort niedergelassen hatte, befand er sich in einem Schaffensrausch: 80 Gemälde in 70 Tagen, dazu viele Zeichnungen. Wer sie kennt, wird bei seinem ersten Besuch in Auvers das Gefühl haben, schon mal dort gewesen zu sein.
Paul Gachet war der Arzt, der van Gogh wegen seiner psychischen Störungen behandelte. Das Porträt, das er von ihm malte, erzielte 1990 – genau 100 Jahre später – einen Rekordpreis von 82,5 Millionen Dollar. Zu Lebzeiten dagegen war van Gogh auf Zuwendungen seines jüngeren Bruders Theo angewiesen. Das Haus von Dr. Gachet kann heute besichtigt werden. Helfen konnte ihm der Arzt nicht.
Nach seiner eigenen Aussage hat es ihn an jenem Sonntagnachmittag wieder in die Weizenfelder hinter der Kirche getrieben. Goldgelb unter tiefblauem Himmel liegen die Felder im Sommer da, und wenn man in die Hände klatscht, flattern Krähen auf. Das berühmte „letzte Gemälde“, das „Weizenfeld mit Raben“ aus dem Vincent-van-Gogh-Museum in Amsterdam – hier kann man es geradezu durchschreiten.
Hier also hat er vor seiner Staffelei gestanden. Wäre man ihm an jenem verhängnisvollen Tag in den Weizenfeldern begegnet, man hätte einen Bogen um ihn gemacht. Der junge Maler Anton Hirschig, der im Gasthof Ravoux das Zimmer neben ihm mietete, hatte regelrecht Angst vor ihm: „Ich sehe ihn noch auf der Bank vor dem Fenster des kleinen Cafés sitzen. Mit dem wilden Blick, in dem so etwas Verrücktes lag, dass ich es nicht wagte, ihn anzusehen.“
Ein paar Jugendliche hatten Spaß daran, den „Irren“ zu piesacken. Sie schütteten ihm Salz in den Kaffee und steckten ihm eine Grasschlange in seinen Malkasten. Rädelsführer war der 16 Jahre alte René Secrétan, Sohn reicher Leute aus Paris, der in Auvers seine Ferien verbrachte. Er liebte es, in einem Cowboykostüm herumzustolzieren. Dazu gehörte auch eine echte Pistole. Noch 1956, als 82-jähriger Greis, erinnerte sich Secrétan: „Unser Lieblingsspiel bestand darin, ihn wütend zu machen.“ Irgendwann habe van Gogh wohl seine herumliegende Pistole gefunden und an sich genommen.
Manche Forscher verdächtigen Secrétan, er selbst sei es gewesen, der den Schuss auf van Gogh abgegeben habe. „Gerichtsmediziner sicher: Van Gogh wurde ermordet“, hieß noch im vergangenen Jahr eine Schlagzeile. Der Kronzeuge gegen diese Theorie ist van Gogh selbst: „Ich habe mir auf dem Feld eine Verletzung zugefügt“, sagte er auf seinem Zimmer. „Ich habe dort einen Revolverschuss auf mich abgegeben.“ Auch einem Gendarm, der ihn zur Rede stellte, gestand er: „Ich wollte mich umbringen.“
Für seine Verzweiflung gab es einen sehr konkreten Grund: Sein Bruder Theo hatte ihm kurz zuvor mitgeteilt, dass er seine Stelle in einer Pariser Kunsthandlung kündigen und sich selbstständig machen werde. Vincent musste befürchten, dass Theo nun kein Geld mehr haben würde, um ihn zu unterstützen. „Mein Leben ist an der Wurzel angegriffen“, erkannte er. „Ist denn keiner da, der mir den Bauch aufschneidet?“, stöhnte der Schwerverletzte.
Aber Dr. Gachet wagte es nicht, die Kugel herauszuoperieren. Am nächsten Tag traf der geliebte Bruder im Gasthof Ravoux ein. Dies war vielleicht genau das, was van Gogh mit seiner Tat beabsichtigt hatte. Viele Stunden sprachen die Brüder miteinander. Theo hielt die Schussverletzung seines Bruders nicht für lebensbedrohlich. Aber er begriff jetzt: „Er war einsam, und manchmal war es mehr, als er ertragen konnte.“
Gegen Abend verschlechterte sich Vincents Zustand dramatisch. Tief in der Nacht flüsterte er ihm zu: „So möchte ich sterben.“ Es waren seine letzten Worte, eine halbe Stunde später war er tot. Er war 37 Jahre alt geworden. Der syphiliskranke Theo überlebte ihn nur um ein halbes Jahr. Auf dem Friedhof von Auvers liegen die beiden Brüder nebeneinander begraben.
Was ist es nur, das die Leute im Sterbezimmer des Vincent van Gogh weinen lässt? Ein Grund dürfte sein, dass das Zimmer leer ist. Die Besucher müssen es selbst mit eigenen Vorstellungen füllen. Doch Dominique-Charles Janssens, der den Gasthof gekauft und auf wundervolle Weise restauriert hat, glaubt noch eine andere Antwort zu kennen: “In diesem Zimmer ziehen die Menschen die Bilanz ihres eigenen Lebens. Sie kommen, um van Gogh zu suchen. Aber sie finden sich selbst.“