18. August 2022, 8:42 Uhr | Lesezeit: 3 Minuten
Mitte der 1950er Jahre war die Welt in der mittelalterlichen Festungsstadt Granadilla noch in Ordnung. Doch dann beschloss die Regierung, dass alle 1000 Einwohner das Städtchen wegen eines gigantischen Staudammprojekts verlassen sollten. Doch überflutet wurde Granadilla nie – und die früheren Bewohner leiden bis heute unter den Folgen ihrer Zwangsumsiedlung. TRAVELBOOK erzählt die tragische Geschichte der Geisterstadt, die niemals zu einer hätte werden müssen.
Wer Granadilla im Westen von Spanien heute besucht, kann über die gut erhaltene Stadtmauer spazieren, durch die kopfsteingepflasterten Gassen schlendern oder vom Turm der Festung aus die Aussicht genießen. Einige Wohnhäuser sind auch renoviert worden. Am Abend allerdings schließen sich die Tore wieder. Denn in der Geisterstadt Granadilla lebt bis heute niemand mehr. Nicht mehr, seit alle Bewohner in den 1960er Jahren aus der Stadt vertrieben wurden.
Gegründet wurde Granadilla laut einem Bericht von „BBC“ bereits im 9. Jahrhundert von den Arabern. Die Stadt lag an einem strategisch günstigen Ort, der es den Bewohnern ermöglichte, die Ruta de la Plata, eine alte Handels- und Reiseroute durch die Region, im Auge zu behalten. Im Laufe der Jahrhunderte wechselte mehrmals die Herrschaft über die Stadt, und heute ist Granadilla eines der wenigen spanischen Festungsdörfer, dessen alte Mauern noch erhalten sind.
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Wie Granadilla zur Geisterstadt wurde
In den 1950er Jahren dann beschloss der damalige Diktator Franco, die ländlichen Gebiete Spaniens durch die Anlegung zahlreicher Stauseen wirtschaftlich zu revitalisieren. Das größte dieser Projekte war die Talsperre Gabriel y Galán, die den Fluss Alagón zu einem gigantischen Stausee aufstaut. 1955 verfügten die Behörden, dass Granadilla im Überschwemmungsgebiet liege und daher evakuiert werden müsse.
Innerhalb von 10 Jahren, zwischen 1959 und 1969, wurden alle 1.000 Einwohner zwangsumgesiedelt, viele von ihnen in Siedlungsgebiete in der Nähe des Städtchens. Ab 1963 begann das Wasser zu steigen – doch geflutet wurde Granadilla nie. Die zuständigen Ingenieure hatten schlichtweg falsch gerechnet. Trotz dieser Tatsache erlaubte man den ehemaligen Bewohnern nicht, in ihre Häuser zurückzukehren, und Granadilla verkam zur Geisterstadt.
Eine traumatische Erfahrung
Für viele war diese Erfahrung traumatisch und prägt sie bis heute. „Es war eine Farce“, zitiert „BBC“ einen ehemaligen Bewohner. „Sie haben uns rausgeschmissen und behauptet, der Damm würde die Stadt überfluten, was unmöglich war, weil die Stadt höher liegt als der Damm.“ Eine weitere frühere Einwohnerin von Granadilla erinnert sich: „Jedes Mal, wenn eine Familie das Dorf verließ, kamen alle zum Dorfeingang, um sich zu verabschieden und zu weinen.“
Weil die spanische die Regierung noch heute an dem von Franco unterzeichneten Überflutungsdekret festhält, ist an eine Rückkehr nach Granadilla weiterhin nicht zu denken. Nur tagsüber öffnet die Geisterstadt Granadilla für Besucher. 1980 wurde sie als kunsthistorische Stätte ausgewiesen. Seither betreiben Freiwillige sie als eine Art kostenloses Freilichtmuseum betrieben. Im Rahmen dieses Projekts hat man inzwischen etwa 20 Häuser im zentralen Teil der Stadt liebevoll restauriert.
Die früheren Einwohner und ihre Nachkommen treffen sich zweimal im Jahr in der Stadt. An Mariä Himmelfahrt (15. August) nehmen sie an einer Messe in ihrer alten Kirche. Und an Allerheiligen (1. November) besuchen sie ihre verstorbenen Angehörigen auf dem Friedhof von Granadilla.