25. Mai 2023, 6:41 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Der kleine Flecken Gruorn mitten im Biosphärenreservat Schwäbische Alb existiert bereits seit 1939 nicht mehr. Eigentlich, denn seitdem weigert sich der Ort hartnäckig, endgültig zu „sterben“. Zwar leben hier längst keine Menschen mehr, doch dank der Hilfe vieler ehemaliger Bewohner ist das vermeintliche Geisterdorf ein kleiner Touristenmagnet geworden.
„Ein Dorf lebt weiter.“ Dieses Motto soll jeder lesen, der auf der Webseite von Deutschlands vielleicht einzigartigstem Geisterdorf vorbeischaut. Moment mal, werden Sie jetzt vielleicht fragen, warum hat ein Ort, der bereits seit 1939 verlassen ist, eine eigene Internetpräsenz? Im Falle von Gruorn, gelegen in Baden-Württemberg mitten im Biosphärenreservat Schwäbische Alb, ist die Antwort einfach. Das Nest weigert sich einfach hartnäckig, endgültig zu „sterben“. Im Gegenteil, heute ist der kleine Flecken sogar ein beliebter Touristenmagnet in der Gegend geworden. Und das alles Dank der Hartnäckigkeit und der Liebe einiger Menschen, die ihre alte Heimat einfach nicht endgültig aufgeben wollen.
1939 kam das Ende
Es ist Mitte der 1930er-Jahre, als in dem 700-Seelen-Dorf Gruorn eine Schreckensnachricht zu kursieren beginnt. Angeblich gibt es Pläne zur Erweiterung des bereits seit 1885 bestehenden Truppenübungsplatzes Münsingen. Und das würde gleichzeitig bedeuten, dass der Ort, dessen erste urkundliche Erwähnung laut offizieller Webseite auf das Jahr 1254 zurückgeht, verschwinden müsste. Beziehungsweise seine Bewohner. Schon bald wird aus dem Gerücht grausame Sicherheit, und die etwa 700 Bewohner bekommen zwei Jahre Zeit, um sich eine neue Heimat zu suchen. Am 15. Februar 1937 wird das Todesurteil für den stolzen Flecken verkündet.
Leidenschaftliche Gesuche der Einwohner für den Verbleib ihres Gruorn verhallen ungehört, die Reichsumsiedlungsgesellschaft bietet den traumatisierten Menschen stattdessen eine „Versetzung“ an. 600 Betriebe in ganz Deutschland stehen zur Auswahl. Die Behörde stellt zwei Autos mit Chauffeuren, damit diejenigen, die vertrieben werden sollen, sich leichter eine mögliche neue Heimat anschauen können. Das Land kauft man den Menschen der „Stuttgarter Zeitung“ zufolge etwa zur Hälfte seines Wertes ab. Für jeden Apfelbaum gibt es 70 Reichsmark, allein eine einmalige gute Ernte ist soviel wert. 1939 ist es dann endgültig so weit, die Gruorner müssen ihr Zuhause verlassen.
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Zunächst scheint es jedoch so, als würde der Alptraum mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ebenfalls vorbei sein. In den noch intakten Häuser von Gruorn bringt man damals für kurze Zeit Heimatvertriebene unter, auch einige ehemalige Bewohner dürfen daraufhin zurückkehren. Doch die etwa 180 Häuser befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in verschiedenen Stadien des Verfalls, spätestens mit Beginn der 50er-Jahre kommt noch die zunehmende Zerstörung durch militärische Manöver in dem Dorf hinzu. Es sieht so aus, als wäre es nun endgültig dem Untergang geweiht. Ende der 1970er-Jahre sprengt man aus Sicherheitsgründen sämtliche Gebäude bis auf das alte Schulhaus und die Überreste der Stephanuskirche.
Verlassen, aber nicht verloren
Zu diesem Zeitpunkt ist allerdings längst klar: Das Dorf ist zwar verlassen, aber noch lange nicht tot. Denn bereits 1968 hat sich das Komitee zur Erhaltung der Kirche in Gruorn gegründet. Bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich jährlich bis zu 1000 Menschen immer an Pfingsten in dem alten Gotteshaus versammelt. Mit der Unterstützung von Historikern, Denkmalschützern und sogar Militärs beschließt man also, die Stephanuskirche zu restaurieren, um der ehemaligen Heimat ein trotziges Denkmal zu setzen. Die Kosten von 35.000 Mark kommen durch Spenden zusammen, und 1973 ist es dann so weit. Seitdem wird die Kirche wieder regelmäßig für Gottesdienste genutzt.
Und noch mehr hat sich seitdem in Gruorn getan. So befindet sich mittlerweile in dem alten Schulhaus eine Gaststätte, in der hungrige Besucher in der Zeit von Ostern bis Allerheiligen empfangen werden. In dieser Zeit hat das Dorf Saison, finden hier regelmäßig Führungen, Konzerte und andere Veranstaltungen statt. Zu verdanken ist das der endgültigen Schließung des Truppenübungsplatzes Münsingen im Jahr 2006. Seitdem hat man hier rund um Gruorn 50 Kilometer Weg freigegeben, die sich jeder Interessierte zu Fuß oder mit dem Fahrrad erschließen kann. Mit dem Auto ist das einmalige Geisterdorf nicht zu erreichen.
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Gruorns Pläne für die Zukunft
Die Führungen finden innerhalb der Saison jeden Sonn- und Feiertag um 14.30 Uhr statt. Die Anmeldung dafür erfolgt über die Touristeninformation des Ortes Münsingen. Der Besuch von Gruorn ist kostenlos, der Heimatverein bittet Gäste jedoch um eine kleine Spende. Denn nach 50 Jahren müsste die Kirche erneut saniert werden, was laut Schätzungen des Heimatvereins etwa eine Million Euro kosten dürfte. Auch denkt man in dem definitiv nicht toten Ort darüber nach, künftig auf dem alten Dorfplatz größere Open-Air-Konzerte zu veranstalten. Im Schulhaus befindet sich ein Museum, in dem Interessierte sich über die Geschichte des Ortes informieren können.
Jedes Jahr zu Pfingsten und Allerheiligen findet dann ein ganz besonderes Treffen statt. Dann finden sich hier ehemalige Bewohner von Gruorn ein, um ihrer alten Heimat zu huldigen und der Vertreibung zu gedenken. Wer dann oder zu einem anderen Zeitpunkt als Gast das Dorf besuchen möchte, kann ab dem Parkplatz Trailfinger Säge einen etwa zwei Kilometer langen Wanderweg beginnen. Dieser führt dann mitten in einen Ort aus der Vergangenheit, der sich auch in der Gegenwart noch weigert, aufzuhören, an seine Zukunft zu glauben.
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