9. Juni 2017, 9:03 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Zu seinen besten Zeiten zog das Kejonuma Leisure Land in Japan mehr als 200.000 Besucher pro Jahr an. Heute sind es nur ein paar Dutzend Urban Explorers – wenn überhaupt. Denn der Freizeitpark, über den man sich gruselige Geschichten erzählt, ist seit 2000 geschlossen und liegt seitdem in einem Dornröschenschlaf.
Die alte Park-Eisenbahn steht starr und schief abseits ihrer Gleise. Die bunte Farbe pellt sich vom Karussell. An den Streben des Riesenrades klettert der Rost nach oben. Das Leben, so scheint es, ist diesem Ort längst entwichen. Da wo einst Tausende Kinder und Erwachsene ihren Spaß hatten, bietet sich heute ein trister Anblick. Vom Kejonuma Leisure Land in der japanischen Präfektur Miyagi sind nur noch Ruinen übrig. Doch genau das ist es, was Urban Explorers wie Florian Seidel, der den Park fotografierte, lieben: den maroden Charme, die still stehende Zeit, die eingefrorenen Erinnerungen.
Der in Deutschland geborene Florian Seidel lebt in Osaka, etwa 900 Kilometer von Tohoku entfernt. Er erforscht und dokumentiert Orte wie diesen. Dabei gilt immer: Nimm nur Erinnerungen, hinterlasse nichts als Fußspuren. Urban Explorers (kurz: Urbexer) nennt man solche Entdecker, die, meist mit einer Kamera ausgestattet, schon längst vergessene Welten erkunden. Sie gehen an jene Orte, die von den Menschen mehr oder weniger freiwillig verlassen wurden und die dem Verfall preisgegeben sind. Ein solcher Ort ist auch der Kejonuma-Park – ein sogenannter „Lost Place“.
„Unter Urbexern in Japan ist das Kejonuma Leisure Land ein recht bekannter verlassener Ort“, so Florian Seidel zu TRAVELBOOK. „Wenn man sich für die Thematik interessiert, stößt man da quasi zwangsweise drauf.“ 2000 wurde der Park, der 1979 eröffnet hatte, geschlossen – die Besucherzahlen waren zu stark gesunken.
Gespenstische Legende
Es gibt viele Gründe, warum immer weniger Menschen ins Kejonuma Leisure Land wollten: Die Wirtschaftskrise Ende der 90er-Jahre in Japan ist sicherlich einer davon; andere verweisen auf die sinkende Geburtenrate im Land oder die Tatsache, dass der Park einfach in die Jahre gekommen war.
Manche jedoch glauben, die Schließung des Parks habe mit einem Fluch zu tun, der auf dem Ort laste – und letztlich auch dem Namen innewohnte. Denn ganz in der Nähe befindet sich der „Weiher der Geisterfrau“, so jedenfalls lässt sich laut „The Japan Times“ Kejonuma übersetzen. Einer alten Legende nach brachte die Tochter eines reichen Farmers hier ein Kind zur Welt, das wie eine Schlange aussah – und schließlich im Weiher verschwand. Fortan soll das Kind jede Nacht geweint haben, bis die von den Schreien geplagte Mutter dem Wahn erlag und sich entschloss, ihrem Kind in den Weiher hinterher zu springen – und ertrank.
„Wie bei den meisten Geschichten, die seit Jahrhunderten erzählt werden, liegt auch bei dieser der Ursprung meines Wissens nach im Dunkeln“, so Florian Seidel. „Vielleicht hat sie einen wahren Kern, vielleicht wurde sie als reines Schauermärchen erfunden.“ Er gibt jedoch zu, dass es der Atmosphäre gewissermaßen diene, wenn man für solche Geschichten empfänglich sei und den Park an einem nebligen Tag besuche.
Trotz der düsteren Legende fristet der Park heute ein ruhiges Dasein. Keine Kinderschreie – ob von Geistern oder Parkbesuchern – durchbrechen die Stille. Nur der Wind, das Rascheln der Gräser und Blätter sind zu hören, sowie das gelegentliche Klacken einer Kamera, wenn ein Fotograf das Gelände erkundet.
„Als wäre die Menschheit einfach verschwunden“
„Verlassene Freizeitparks werden für gewöhnlich relativ schnell Opfer von Vandalismus“, erklärt Seidel TRAVELBOOK, „sei es der Spreepark in Berlin, Six Flags in New Orleans oder sogar das Dreamland in Nara.“ Nicht so im Kejonuma Leisure Land. Das Besondere an dem Park sei, dass er auch 15 Jahre nach seiner Schließung in einem vergleichsweise guten Zustand sei. Keine Spuren von Vandalismus. Keine herausgerissenen Erinnerungsstücke.
„Das ist extrem selten und gibt den dort gemachten Bildern einen recht ungewohnten, einzigartigen Look“, so Seidel. „Während der Spreepark in Berlin beispielsweise eher post-apokalyptisch wirkt, sieht das Leisure Land aus, als wäre die Menschheit einfach verschwunden.“
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In Japan gibt es kaum Vandalismus
Dabei liegt der Park direkt an einer Straße, ist sehr gut sichtbar. Einen Schutz gegen Vandalismus gebe es nicht, so Seidel: „Es gibt meines Wissens nicht einmal ‚Betreten verboten‘-Schilder.“ Obwohl der Park in Japan relativ bekannt sei – „durch Fernsehen und Fotobücher“ –, sei er sozusagen unberührt. Der Urban Explorer hat auch eine Theorie, warum das so ist: „Generell gibt es in Japan deutlich weniger Vandalismus als in Deutschland, sowohl im Alltag als auch verlassene Orte betreffend. Außerdem liegt der Park ziemlich ländlich, weit entfernt von Ballungszentren – selbst der nächste Bahnhof ist fast 10 Kilometer weit weg. Wenn man schon vergleichsweise viel Aufwand betreibt, um zum Leisure Land zu gelangen, warum würde man ihn beschädigen wollen?“
Es bleibt also die Hoffnung, dass das Kejonuma Leisure Land auch in Zukunft ein Ort der Inspiration und der Entdeckung bleiben wird und der Verfall – wie bei so vielen anderen „Lost Places“ auf der Welt – nicht durch den Menschen beschleunigt wird.
Wenn Sie sich für die Lost-Places-Fotos von Florian Seidels interessieren, schauen Sie doch mal auf seiner Facebook-Seite Abandoned Kansai vorbei.