18. Dezember 2022, 8:54 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Vor der Küste der US-amerikanischen Kleinstadt Key Biscayne befindet sich im flachen Meer eine Ansammlung skurriler Stelzenhäuser. Vor fast 100 Jahren war Stiltsville so etwas wie eine Westernstadt, in der Alkoholkonsum und Glücksspiel grassierten. Doch mehrere Hurrikans, Feuer und die Staatsgewalt setzten dem höchstens halblegalen Mekka schließlich ein Ende.
Etwa eine Meile vor der Küste der US-amerikanischen Kleinstadt Key Biscayne im Staat Florida befindet sich eine der skurrilsten Sehenswürdigkeiten der Vereinigten Staaten. Auch vom Ufer aus erkennt man bei klarem Wetter die Strukturen von insgesamt sieben Stelzenhäusern, die hier, auf Sandbänken, im flachen Wasser stehen. Es handelt sich dabei um die Überreste des legendären Stiltsville. Vermutlich bereits in den 1920er Jahren entstanden, war es ein Ort für Menschen, die es mit dem Gesetz nicht ganz so genau nahmen.
Wie die Seite des Stiltsville Trust berichtet, der den Ort heute verwaltet, standen vermutlich schon im Jahr 1922 in dem flachen Wasser zwölf Hütten auf Stelzen. Damals galt in den USA das Gesetz der Prohibition, also ein strenges landesweites Verbot von Alkohol. In Stiltsville nahm man es damit aber nicht so ernst, denn seine Lage hatte einen entscheidenden Vorteil. Es befand und befindet sich eben eine Meile von der Küste entfernt, und damit in internationalen Gewässern. Die US-Jurisdiktion konnte hier offiziell nichts ausrichten. Und das machten sich einige moderne Piraten zunutze.
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Alkohol und berüchtigte Clubs
Allen voran Kapitän Eddie „Crawfish“ Walker, der neben Angelködern seinen Gästen auch gerne mal ein Bier servierte. Schnell entstanden rund um sein Stelzenhaus noch mehrere andere, und damit war Stiltsville geboren. In der Siedlung der Gesetzlosen grassierte auch nach dem Ende der Prohibition im Jahr 1933 nicht nur der Alkoholkonsum, sondern auch das Glücksspiel. 1941 schaffte es der hier ansässige „Quarterdeck Club“, ein Ort für die Schönen und Reichen, sogar ins legendäre „Life“-Magazin. Dort hieß es über das Etablissement, es sei ein „100.000-Dollar-Palast“. Hier gab es eine Bar, eine Lounge sowie Anlegeplätze für Yachten.
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1962 eröffnete, auf einer gestrandeten Jacht, der sagenumwobene „Bikini Club“. Frauen, die nur besagtes Kleidungsstück trugen, erhielten hier kostenlos Drinks. Auch gab es ein Sonnendeck, auf dem sich die Damen hüllenlos bräunten – im ewig prüden Amerika damals ein besonderer Skandal. Dass der Laden keine Lizenz zum Alkoholausschank hatte, ärgerte die Gegner von Stiltsville nur umso mehr, und so machte der Staat den „Bikini Club“ schließlich nach einer Razzia im Jahr 1965 dicht. Die offizielle Begründung war absolut skurril. Bei der Durchsuchung fand man einige Langusten, die der Club laut der örtlichen Fischereigesetze nicht hätte besitzen dürfen.
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Besuch nur mit Erlaubnis
Und auch zahlreiche Naturkatastrophen machten Stiltsville immer wieder zu schaffen. Genauer gesagt, Hurrikans. Bereits 1950 zerstörte einer die Hütte von Kapitän Walker, 1960 dann verwüstete Hurrikan „Donna“ 20 der insgesamt 27 Häuser, die man bis dahin gebaut hatte. Acht wurden wieder errichtet, doch schon 1965 zog mit Betsy der nächste Sturm durch Stiltsville. Insgesamt gab es in diesem Jahr hier trotzdem wieder 25 Häuser, und sogar ein lokaler Richter baute sich ein Domizil auf dem Wasser.
Stiltsville wurde zu einer Art Ferienort für Wohlhabende, doch die berüchtigten Exzesse gingen unvermindert weiter. So brach 1992 ein ganzes Haus unter der Last von insgesamt 150 Party-Gästen einfach zusammen. Nur zwei Monate später machte dann Hurrikan „Andrew“ der Siedlung ein Ende. Er ließ auf seinem Pfad der Zerstörung nur die sieben Häuser stehen, die es noch heute gibt. Bereits 1985 war Stiltsville in die Verwaltung der Nationalpark-Behörde übergegangen und befindet sich heute auf dem Gebiet des Key Biscayne Küsten-Nationalpark.
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Der Arbeit des Stiltsville Trust ist es zu verdanken, dass das legendäre Dorf der Gesetzlosen heute noch existiert. Denn bereits 1999 sollten die letzten Strukturen hier eigentlich abgerissen werden. In jahrelanger Arbeit konnte das schließlich 2003 endgültig verhindert werden. Die Siedlung auf dem Wasser kann man heute mit einer Genehmigung per Boot besichtigen. Viele Mitglieder des Stiltsville Trust machen ihre Häuser zu diesem Zweck auch Kirchengruppen, Schulklassen und Pfadfindern zugänglich. Und so ist der Ort, der als Zuflucht für moderne Piraten entstand, heute eine Sehenswürdigkeit für alle Menschen.