11. April 2023, 6:25 Uhr | Lesezeit: 14 Minuten
Die meisten Urlauber zieht es an malerische Strände, zu grandiosen Landschaften und zu epochalen Bauwerken. Aber es gibt auch Menschen, die sich von Sehenswürdigkeiten mit einer düsteren, oft auch grausamen Vergangenheit angezogen fühlen. Das Besichtigen solcher Orte wird als „Dark Tourism“ bezeichnet – dunkler Tourismus. TRAVELBOOK hat zwei Reisende, die insgesamt mehr als 1000 „Dark Tourism“-Orte in mehr als 100 Länder weltweit besucht haben, nach ihren persönlichen Top-Ten-Listen düsterer Ziele gefragt: Sebastián Cuevas und Dr. Peter Hohenhaus.
„Dark Tourism“ ist zwar längst kein neuer Begriff mehr, aber die Faszination, Lost Places, also verlassene Orte, oder Plätze, an denen sich Tragödien ereignet haben, zu besuchen und zu fotografieren, ist nach wie vor groß, wie anhand Unmengen geteilter Fotos zum Beispiel bei Instagram oder Facebook mit entsprechenden Hashtags zu erkennen ist. Bei vielen Orten kommt dann noch eine düstere oder gar grausame Geschichte dazu. Zwei Experten verraten hier, welche „Dark Tourism“-Orte sie auf vergangenen Reisen am meisten fasziniert haben.
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Dr. Peter Hohenhaus
„Dr. Peter Hohenhaus, geboren 1963 in Hamburg, ursprünglich promovierter Sprachwissenschaftler und als solcher viele Jahre vor allem in Großbritannien als Universitätsdozent tätig, ist seit 2005 als Freiberufler in Wien ansässig. Mit 'Dark Tourism' beschäftigt er sich dezidiert seit 2008, seine Website dark-tourism.com ist seit Anfang 2014 öffentlich. Die Website stellt Informationen bereit zu derzeit knapp 900 'Dark-Tourism'-Destinationen in 110 Ländern.“
1. Tschernobyl, Ukraine
Für mich das faszinierendste Reiseziel schlechthin, eine simultane Zeitreise sowohl in die sowjetische Vergangenheit als auch in eine post-apokalyptische Zukunft, wenn es die menschliche Zivilisation nicht mehr geben wird und sich die Natur unsere Betonwelten zurückholt. Meine dritte Reise in die Sperrzone im November 2018 war speziell, weil wir früh morgens von Slawutytsch per Bahn angereist waren und es schneite, sodass wir in Prypjat die ersten Fußspuren im Neuschnee hinterließen, was den Geisterstadt-Charakter des Ortes nochmals kräftig verstärkte. Die Stadt Pripjat wurde für die AKW-Belegschaft errichtet und ist seit der Reaktorkatastrophe von 1986 verlassen.
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2. Murambi, Ruanda
Von allen Gedenkstätten des Völkermords in Ruanda ist diese die heftigste. Hier sind Leichen der Opfer der brutalen Massaker aus ihren Massengräbern exhumiert worden und, weiß gekalkt, auf Tischen ausgestellt. Das ist aus westlicher Sicht schockierend, hat aber innenpolitische Gründe (man will einem etwaigen Aufkommen der Leugnung des Völkermords einen Riegel vorschieben). Raum um Raum voll mit Hunderten schaurig verdrehter Gestalten, manche mit offenen Mündern, als ob sie stumm schreien, manche mit fehlenden Gliedmaßen (mit Macheten abgeschlagen), sogar Babyleichen … Das bereitet schon mehr als einen Kloß im Hals. Keine Gedenkstätte hat länger und intensiver in mir nachgewirkt.
3. Arirang Mass Games, Nordkorea
Vor allem ein unerwartetes Ereignis war hier herausragend: Unsere Gruppe besuchte im August 2005 die berühmten „Arirang Mass Games”, die größte Massen-Choreografie der Welt. Das Stadion war voll, Kameras verboten, beste Kleidung verlangt. Bald erfuhren wir den Grund dafür: Der „Liebe Führer” Kim Jong Il höchstselbst erschien, sein erster öffentlicher Auftritt seit Jahren. Als er auf die Ehrenloge schritt, brach ein ohrenbetäubender Jubelsturm der etwa 100.000 Besucher los, während der Diktator milde ins weite Rund winkte. Wir blieben stumm. Mir rannten kalte Schauer den Rücken runter.
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4. Ijen, Indonesien
Der nächtliche Abstieg in diesen indonesischen Vulkankrater im Sommer 2014 war schwierig, aber lohnend. Am Ufer des Kratersees wird unter Inferno-artigen Bedingungen Schwefel abgebaut. Dazu gehören unwirklich aussehende blaue Flammen und beißende Qualmwolken – ohne Atemmaske nicht auszuhalten. Es ist, als stünde man auf einem fremden Planeten.
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5. Majdanek, Polen
Diese KZ-Gedenkstätte nahe Lublin in Polen, die ich im März 2008 besuchte, hat bei mir fast noch tiefere Eindrücke hinterlassen als Auschwitz. Das lag auch daran, dass sonst keine anderen Besucher dort waren und ein plötzlicher Wintereinbruch für Schneefall gesorgt hatte, so dass der weiße Boden, der graue Himmel und die dunkel dastehenden Reihen von Holzbaracken und Wachtürmen wie schwarz-weiß wirkten, also wie auf historischen Fotos. Zudem sind hier, anders als in Auschwitz, auch Krematorium und Gaskammer erhalten geblieben, letztere sind bis heute an den Innenwänden vom Zyklon-B grünlich-blau verfärbt. Relikte des industrialisierten Massenmordes.
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6. Semipalatinsk, Kasachstan
Hier, in der ost-kasachischen Steppe, war früher das Gelände des sowjetischen Atombomben-Test-Programms. Im August 2011 fuhren wir zu viert bis zum „Ground Zero“ der ersten sowjetischen Atombombe (und vieler darauffolgender) sowie zu den Überresten der Betontürme, die einst Messgeräte beherbergten und dessen Außenseiten zum Teil von der Hitze der Explosionen schwarz versengt und angeschmolzen sind. Die Radioaktivität war meist gar nicht so hoch, dennoch trugen wir sicherheitshalber Überschuhe und Atemmasken. Hardcore „Dark Tourism“, zweifellos!
7. Wolgograd, Russland
Das ehemalige Stalingrad war der Schauplatz der wohl entscheidenden Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Niemand hat je so eindrucksvolle Kriegsdenkmäler errichtet wie die ehemalige UdSSR, und die in Wolgograd sind die Krönung, allen voran die gigantische Statue „Mutter Heimat ruft”, welche 85 Meter hoch ist. Am gewaltigen grauen Fuße dieser größten weiblichen Statue der Welt fühlte ich mich im August 2017 als Besucher wahrlich klein. Dennoch ist es auch erhebend, dort einmal zu stehen.
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8. Titan Missile Museum, Arizona, USA
Im April 2012 ging ich auf eine private „top-to-bottom“-Tour. Der Kurator des Museums selbst führte mich durch dieses einzige erhaltene Silo, in dem immer noch eine Titan-II-Interkontinentalrakete steht, wenn auch heute mit leerem Atomsprengkopf. Es ging bis in die unterste Ebene des Silos, wo wir direkt unter der Rakete standen. Im Kommandozentrum führten wir zu zweit einen simulierten Raketenstart durch, an dessen Ende der Kurator schwarz-humorig sagte: „Welcome to World War 3”! Für jeden, der den Kalten Krieg noch erlebt hat, ist dieser Ort der wohl beeindruckendste weltweit.
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9. Montserrat, Karibik (Britisches Überseegebiet)
Auf dieser britischen Insel in der Karibik ist seit 1995 ein Vulkan aktiv. Viele sind weggezogen, doch die verbliebene Inselbevölkerung gehört zu den freundlichsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Vielleicht liegt das zum Teil auch am Leben mit dem Vulkan. Als ich zum Jahreswechsel 2009/2010 dort war, gab es eine sehr aktive Phase. Der Krater stieß gewaltige Aschewolken aus, dazu pyroklastische Ströme, und bei Nacht war der rot-glühende Schein der Lava am Gipfel zu beobachten. Die verlassene Hauptstadt Plymouth, das „Pompeji der Karibik”, durfte wegen der Vulkanaktivität nicht betreten werden, aber eine Bootsfahrt führte bis dicht heran an die Geisterstadt, von der nur noch die oberen Stockwerke aus der grauen Aschewüste herauskucken.
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10. Hohenschönhausen in Berlin, Deutschland
Dieses bedrückende frühere Stasi-Untersuchungsgefängnis in Berlin besuchte ich erstmals im März 2008. Die Führung wurde von einem ehemaligen Häftling geleitet, dessen Geschichte nicht nur spannend und ergreifend war, sondern mitunter auch tragikomisch die Absurdität zeigte, welche die Spitzel-Maschinerie der Stasi mitunter hatte.
Hier geht es zur Webseite von Dr. Peter Hohenhaus mit weiteren spannenden Dark-Tourism-Zielen
Sebastián Cuevas
„Sebastián Cuevas ist Reiseschriftsteller und Historiker. Er hat einen Fuß hier, einen Fuß dort und sein Herz an unzählige Orte verloren. Er wurde in den Vereinigten Staaten geboren und ist in Mexiko aufgewachsen. Er lebt in Hamburg und fühlt sich in Osteuropa zu Hause – besonders in der Ukraine. Sebastiáns Faszination für die dunklere Seite der Geschichte ist die Hauptantriebskraft seiner Reisen, die er auf seinem Online-Portal „Rebel Historian“ dokumentiert.“
11. Belfast, Nordirland
Die Hauptstadt Nordirlands besuchte ich über Weihnachten im Jahr 2016. Damals habe ich in Berlin gelebt und bin von einer Stadt, die mal durch Mauern geteilt war, in eine Stadt gereist, die gerade durch Mauern geteilt ist. In Nordirland herrscht seit 1998 offiziell Frieden, aber dennoch ist die Realität des politischen Konflikts zwischen pro irischen Republikanern und pro britischen Loyalisten überall zu sehen. Ich bin öfter auf Denkmäler gestoßen, wo Leute durch Gewalt gestorben sind. Die Erinnerung an den Konflikt ist überall in der Stadt zu spüren.
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12. Thingstätte in Heidelberg, Deutschland
Zu meiner Studienzeit in Heidelberg gab es immer zur Walpurgisnacht eine Wanderung hoch auf den Heiligenberg. Dort befinden sich die Ruinen einer Freilichtbühne. Die Thingstätte wurde 1935 im Dritten Reich erbaut, um „völkische“ Festspiele zu feiern. Als ich zum ersten Mal dort hochgelaufen bin, war ich von dem Anblick beeindruckt, und auch von der Stille, die dort herrschte. Was den Ort so atmosphärisch macht, ist die Kombination von Ruinen und Natur, da der Heiligenberg sich schon am Rande des Odenwalds befindet.
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13. Hof der verlorenen Spielzeuge in Lemberg, Ukraine
Der Hof der verlorenen Spielzeuge befindet sich hinter einem Gebäude in der Altstadt von Lwiw. Dort werden seit Jahren alte Spielzeuge deponiert. Mittlerweile ist die Sammlung ziemlich groß und kann auf verschiedene Weisen interpretiert werden. Ich verstand es als Zeichen des Vergessens, und während die Stimmung sehr melancholisch war, vor allem im Regen, hatte der Hof was Besonderes, wie ein verlassenes Gebäude und ein Heiligengrab der Nostalgie.
14. Panteón de Orizaba, Mexiko
Ich besuche öfter Friedhöfe, aber den in der mexikanischen Kleinstadt Orizaba fand ich so beeindruckend, dass er in meine Top-Ten-Liste gehört. Nicht nur wegen der Berge im Hintergrund, sondern auch wegen der vielen Legenden, die mit dem Friedhof in Verbindung gebracht werden. Im Herzen des Friedhofs steht ein riesiger Stein, auf dessen Oberfläche ein fünf Meter großer Mann eingraviert ist. Am Tag meines Besuchs waren die Berge zur Hälfte von einer dicken Schicht Nebel bedeckt, was eine Atmosphäre wie aus einem Roman von H.P. Lovecraft erzeugt hat.
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15. Maginot-Linie, Frankreich
Militärgeschichte ist eine Leidenschaft von mir – und zwar so sehr, dass ich ihr sogar mein Studium gewidmet habe. Eines Tages habe ich mein Fahrrad genommen und bin mit einem Freund über die deutsche Grenze ins Elsass gefahren, um möglichst viel von der Maginot-Linie zu sehen. Dieses, aus einer Linie von Bunkern bestehende Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze, war ein militärisches Wunder. Jedoch war es am Ende vollkommen irrelevant. Ab 1935 einsatzfähig und im Jahr 1969 außer Betrieb genommen, stehen die stark befestigten Anlagen wie Geister in den elsässischen Wäldern, und ich war jedes Mal von Neuem davon beeindruckt.
16. Friedhof Lychakiv, Lemberg, Ukraine
Bis 1918 war Lemberg Teil Österreichs. Danach, bis 1939, gehörte die Stadt zu Polen. Seit 1939 ist sie Teil der Ukraine. Die multikulturelle Vergangenheit der Stadt kann man anhand der Namen auf den Grabsteinen erkennen. Ich bin entlang vieler alten Gräber mit polnischen oder deutschen Namen gelaufen, dann kamen noch die Grabsteine aus der Sowjetzeit. Die Wanderung habe ich am polnischen Ehrenfriedhof beendet und hatte am Ende ein tieferes Verständnis von der komplizierten Geschichte der Westukraine.
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17. Sarajevo, Bosnien und Herzegowina
Sarajevo ist eine Stadt, die gleichzeitig für Harmonie und Konflikt steht. Hier stehen Moscheen, orthodoxe und katholische Kirchen unweit voneinander entfernt. Jedoch wurde die Stadt in den 1990er-Jahren fast vier Jahre lang belagert. Ich bin mit einer Freundin, die damals aus der Stadt geflüchtet war, durch Sarajevo gelaufen. Sie hat ständig auf Gebäude hingewiesen, wo einst Scharfschützen positioniert waren. Am Boden zeigen noch die „Rosen von Sarajevo“, wo Granaten einschlugen. Einzelne Gräber stehen noch in Gärten und grünen Flächen. Ich empfand den Anblick als traurig, aber die Lebensfreude der Menschen, denen ich dort begegnet bin, hat mir gezeigt, dass Liebe und Glück Tragödien überstehen können.
18. Sowjetisches Ehrenmal in Berlin, Deutschland
Das 1949 errichtete sowjetische Ehrenmal im Treptower Park ist nicht nur das größte solcher Denkmale außerhalb der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch ein mächtiges Zeichen des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ und der Macht der Sowjetunion. Das Gelände ist riesengroß, und ich habe mich sehr klein gefühlt, als ich den langen Weg zu der Soldatenstatue gelaufen bin. Als ich vor der Statue stand, fand ich aber vor allem die Tatsache beeindruckend, dass das Monument an den Sieg von der Sowjetunion über Nazi-Deutschland erinnern soll und dabei in der damaligen DDR steht. Alle drei Staaten sind inzwischen Geschichte.
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19. Wünsdorf, Brandenburg
Ich bin mit dem Zug in die Stadt Wünsdorf ganz in der Nähe von Berlin gefahren. Vor dem Zerfall der Sowjetunion wäre eine solche Reise ohne eine Sondergenehmigung nicht möglich gewesen, denn die Stadt war nach dem Zweiten Weltkrieg zum Sitz der Sowjetischen Streitkräfte in der damaligen DDR geworden. In diesem „kleinen Moskau“ habe ich Spuren dieser Zeit in den Ruinen wiedergefunden. Überall stehen verlassene Gebäude, und in den Wäldern sind noch sowjetische Statuen zu finden. Im „Haus der Offiziere“ stand ich vor einer der letzten Statuen Lenins in Deutschland.
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20. Sedletz-Ossarium in Kutná Hora, Tschechien
Diese Kapelle in der Nähe von Prag birgt ein dunkles Geheimnis: Sie ist komplett mit Knochen dekoriert. 1870 hat ein Künstler namens Frantisek Rint die Knochen der dort begrabenen Menschen zu Ornamenten zusammengefügt. Als ich in die Kapelle hereinkam, schlug mir Feuchtigkeit entgegen. Dann stand ich unter einem riesigen Kronleuchter aus Knochen und habe für einen Moment vergessen, dass ich in einer Kapelle war. Das Beinhaus von Kutná Hora wird jedes Jahr von mehr als 200.000 Menschen besucht.
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