19. Mai 2021, 12:01 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Der Reschensee in Südtirol birgt ein düsteres Geheimnis – denn in seinen Wassern wurde einst ein ganzes Dorf ertränkt. Ganz verschwunden ist es aber dennoch nicht, denn wie in Mahnmal ragt seither noch der Kirchturm von Graun aus dem See. Nun sind die Überreste des Dorfes erstmals seit mehr als 70 Jahren wieder aufgetaucht.
Normalerweise sieht man vom italienischen Dorf Curon, z. Dt. Graun, nur die Kirchturmspitze – ein beeindruckendes Foto-Motiv, das jährlich zahlreiche Besucher anlockt. Nicht weniger beeindruckend ist das Bild, das sich derzeit am Reschensee bietet: Erstmals seit 71 Jahren hat man das gesamte Wasser aus dem See abgelassen, wie Thomas Punter vom Tourismusverein Reschensee auf TRAVELBOOK-Nachfrage bestätigt.
„Grund für das Ablassen des Wassers waren Reparaturarbeiten am Kanal des Stausees, der vom Staudamm wegführt in Richtung Kraftwerk“, sagt Punter. Mit dem Ablassen des Wassers sei bereits vor drei Monaten begonnen worden und die Instandhaltungsarbeiten seien inzwischen so gut wie abgeschlossen. „Seit einer Woche etwa wird jetzt wieder Wasser aufgestaut, aber man sieht noch viel von den alten Ruinen, das dauert noch bis mindestens Mitte Juni, bis der See wieder seinen normalen Wasserstand erreicht hat.“
Viele Besucher kommen, um das versunkene Dorf Graun zu sehen
Tatsächlich kamen in den vergangenen Wochen zahlreiche Menschen, um das versunkene Dorf zu sehen, sagt Thomas Punter. „Viele denken allerdings, dass man hier tatsächlich noch richtige Häuser sehen kann, aber das ist nicht der Fall, weil damals alles gesprengt wurde. Wenn man was sieht, dann eher Böden, Grundmauern, Treppen und Keller.“ Auch die alte Römerstraße, die durch das Dorf führte, könne man noch sehen.
Die tragische Geschichte des versunkenen Dorfes Graun
Am 16. Juli 1950 läuteten in dem kleinen Dorf Graun im italienischen Südtirol zum letzten Mal die Kirchglocken. Kurze Zeit später versank der Ort und auch das Gotteshaus im Reschensee. Grund dafür war nicht etwa eine Naturkatastrophe, sondern vielmehr menschliche Gier nach Fortschritt und Profit.
Die Katastrophe, die die Bewohner von Graun nicht nur aus ihrer Heimat vertrieb, sondern diese einfach von einem Tag auf den anderen auslöschte, hatte sich bereits in den Vorjahren angekündigt: Die Naturseen in Graun und dem nahen Ort Reschen sollten zu einem einzigen, deutlich größeren Gewässer aufgestaut werden. Dank diesem sollte fortan Strom aus Wasserkraft erzeugt werden – ein Plan, der laut dem Buch „Secret Places Europa“ bereits lange gefasst war, denn Norditalien und die nahe Schweiz lechzten nach Energie.
Reisigstecken gegen Maschinengewehre
Laut WELT rechneten die Bewohner ursprünglich damit, dass der Wasserspiegel durch die Stauung nur um fünf Meter ansteigen würde. Tatsächlich ließ man das Wasser aber um 22 Meter steigen, was den sprichwörtlichen Untergang von Graun besiegelte. Demnach standen damals wütende Bauern mit Maschinenpistolen bewaffneten Carabinieri gegenüber. Sie schlugen in verzweifelter Wut mit Reisigstecken auf die Autos der Stromfirma Montecatini ein, die den Zuschlag für den Bau erhalten hatte. Vergeblich.
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Als der Plan schließlich in die Tat umgesetzt wurde, sprengte man zunächst bis auf die Kirche zahlreiche Häuser. Graun und Teile von Reschen versanken in den Fluten. Doch damit begann das Drama für viele der ehemaligen Einwohner erst. Der Plan, sie in andere Gemeinden umzusiedeln, war von Anfang an eine miserabel geplante Farce, gab es doch besonders für die Bauern einfach nicht genug Platz. Und dennoch wurden über Nacht 523 Hektar Grund und Boden sowie 181 Häuser einfach versenkt.
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Nicht einmal der Papst konnte helfen
Daran konnte auch eine Reise des Dorfpfarrers zum damaligen Papst Pius XII. nichts ändern. Und so fand mehr als die Hälfte der Einwohner des „Atlantis der Alpen“ im „neuen“ Graun keinen Platz mehr. An die Tragödie erinnert nur noch der Kirchturm des versunkenen Dorfes, denn er ragt bis heute wie ein Mahnmal aus dem Reschensee. Bei Urlaubern ist der Turm mittlerweile ein sehr populäres Ziel, das regelmäßig von einem Ausflugsschiff angesteuert wird. Die Gemeinde Graun betreibt es seit 20 Jahren.
Das Drama ging als das „Grauen von Graun“ in die Geschichte ein, als Symbol und Warnung gleichzeitig, was der Mensch anrichten kann. Das Wasserkraftwerk im heute mehr als sechs Kilometer langen und ein Kilometer breiten Reschensee produziert 250 Millionen Kilowatt Strom im Jahr. Erst Anfang der 2000er Jahre erhielt die Gemeinde schließlich durch eine Beteiligung am Gewinn des Stromkraftwerks eine minimale Entschädigung. Doch auch diese musste es sich gerichtlich erstreiten.
Wann Graun das nächste Mal komplett aus den Fluten auftauchen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. „Das passiert erst wieder, wenn erneut Reparaturarbeiten anstehen“, sagt Thomas Punter von Tourismusverein Reschensee. Aber jedes Jahr im April und Mai ist der Wasserstand nach den Wintermonaten ohnehin besonders niedrig, sodass vor allem der Kirchturm fast in voller Gänze aus dem Wasser ragt.