28. Dezember 2022, 18:55 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Eine Insel, auf der verstümmelte Puppen den Geist eines toten Mädchens vertreiben sollen – dieser unheimliche Ort liegt in einem Randbezirk von Mexiko-Stadt. Selbst Hartgesottene bekommen bei einem Besuch der Isla de las Muñecas Gänsehaut. Die Geschichte der Insel.
Als Julián Santana Barrera das tote Mädchen im Wasser treibend fand, begann für ihn ein Albtraum, der ihn über fünf Dekaden verfolgen und sein Leben für immer verändern sollte. Der Gemüsebauer hatte bis dahin ein beschauliches Dasein geführt und in Mexiko-Stadt seine Waren verkauft, als ihn sein Weg Anfang der 1950er-Jahre nach Xochimilco führte – ein unübersichtliches, 150 Kilometer langes System aus befahrbaren Wasserkanälen.
Dort, am Ufer einer der vielen Inseln in dem Gebiet, etwa 20 Kilometer vom Zentrum der mexikanischen Hauptstadt entfernt, machte er schließlich einen grausigen Fund. Ein junges Mädchen war offensichtlich ertrunken und vor einem Eiland angespült worden, das heute als die Isla de las Muñecas bekannt ist – die Puppeninsel, wohl einer der schauerlichsten Orte nicht nur in Mexiko, sondern auch auf der ganzen Welt.
Niemand weiß genau warum, doch schon kurz nach dem Vorfall begann Barrera, Puppen zu sammeln, die er im Müll fand – oder die, genau wie das tote Mädchen, an den Ufern der Insel angespült wurden. Die mögliche Erklärung dafür klingt erschreckend: Angeblich fühlte er sich verfolgt, verfolgt von dem Geist der Kleinen, deren Schreie und Klagen immer wieder auf der Insel zu hören gewesen seien – so berichtete es Barrera schließlich Jahrzehnte später seinem Neffen Anastasio Santana. Das Mädchen habe immer wieder gejammert und Spielzeug verlangt, so die unheimliche Überlieferung des Neffen, der heute noch die Puppeninsel in Xochimilco, einem der 16 Stadtbezirke von Mexiko-Stadt, bewirtschaftet.
Wie Kinder am Galgen
Doch damit nicht genug: Um sich vor ihrem Geist zu schützen, hängte der alte Barrera die Puppen in die Bäume der Insel – wenn Wind aufkam, muss es so ausgesehen haben, als baumelten dort kleine Kinderleichen an ihren Galgen. Hunderte und Aberhunderte Puppen sammelte er so in seiner Besessenheit, viele von ihnen ohne Gliedmaßen oder Augen, was die Aura seiner selbst gewählten Insel-Heimat nur noch gruseliger machte.
Es gibt allerdings nicht wenige, die sogar behaupten, Barrera habe die Puppen in seinem Verfolgungswahn selbst verstümmelt. Der Geist des toten Mädchens sei einfach nicht zu beruhigen gewesen – so gab er es auf, ihn besänftigen zu wollen und setzte stattdessen auf Abschreckung. Er schnitt den Puppen selbst die Gliedmaßen ab und stoch ihnen die Augen aus. Barrera wurde von der Insel und ihrer unheimlichen Aura sprichwörtlich gefangen genommen, ließ sich Berichten zufolge von seinem Neffen sogar das Essen bringen.
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Sein Irrglaube ging sogar soweit, dass er sich eine ganz besondere Puppe erwählte, die er Augustina nannte, weil er sie an einem 28. August, am Tag des Heiligen Augustin, aus dem Wasser gefischt hatte. Augustina, auch bekannt als „La Moneca“, begleitete ihn fortan, er hängte sie als einzige nicht in die Bäume, sondern stellte sie jeden Tag an einen anderen Platz – um sie vor den Übergriffen des kleinen Geister-Mädchens zu schützen? Der Legende nach habe Augustina Wünsche erfüllt, wenn er ihr kleine Opfergaben darbrachte.
Mysteriöser Tod im Wasser
2001 starb Barrera, nachdem er mehr als 25 Jahre als einziger Bewohner auf Mexikos Puppeninsel gelebt hatte. Auch sein Tod ist Stoff für Legenden: Eines Tages ging er mit seinem Neffen an die Ufer der Insel zum Fischen und dort erzählte der Alte seinem Neffen eine weitere Schauermär. In den Wassern der Kanäle würde eine Sirene leben und diese habe ihm schon mehrmals angekündigt, ihn eines Tages zu holen. Was dann geschah, machte die Puppeninsel endgültig zu einem Ort des Gruselns. Anastasio ließ seinen Onkel kurz alleine, um nach dem Vieh zu sehen. Als er wiederkam, trieb der alte Barrera tot im Wasser – angeblich genau an der Stelle, wo damals das junge Mädchen ertrunken war.
Doch nicht die Sirene hatte Julián geholt, sondern er war laut einstimmigen Berichten an einem Herzinfarkt gestorben. Mexikos Puppeninsel war zu dieser Zeit schon längst weltberühmt, und auch heute noch ist sie eine Attraktion, die Touristen aus aller Welt geradezu magisch anzieht. Unzählige Zeitungen haben auch zu Lebzeiten des alten Barrera bereits über die Isla delas Muñecas berichtet, wobei es nicht wenige gibt, die die Geschichte mit dem ertrunkenen Mädchen für frei erfunden halten.
Initiationsriten auf der Isla de las Muñecas
Diverse Puppen, die heute auf der Isla de las Muñecas in Bäumen oder Sträuchern hängen, stammen allerdings aus neuerer Zeit. Sie werden von jungen Mexikanern mit auf die Insel gebracht, die im Rahmen eines Initiationsritus‘ eine Nacht ganz allein auf der Grusel-Insel verbringen. Die mitgebrachten Puppen sollen wie schon Julián Santana Barrera vor dem bösen Geist des einst vor der Insel ertrunkenen Mädchens schützen. Insgesamt finden sich heute möglicherweise mehr als tausend, größtenteils verstümmelte Puppen auf der Isla de las Muñecas. Aber auch Bein- und/oder Arm-amputierte Stofftiere wie Teddybären gehören inzwischen zur „Sammlung“.
Anfahrt zur Puppeninsel in Mexiko-Stadt
Anastasio Santana, der bis heute alleine auf der Isla de las Muñecas lebt, gewährt Schaulustigen gegen eine Gebühr Zutritt zur Insel. Die Reise dorthin ist nicht einfach. Vom Zentrum Mexiko-Stadts fährt man entweder mit dem Taxi oder preiswerter mit der Metro (bis zur Haltestelle Tasqueña) und dann weiter mit der Straßenbahn (Tren Ligero) nach Xochimilco. In Xochimilco finden sich diverse Bootsanleger, von denen aus sogenannte Trajineras Besucher zu Mexikos berühmt-berüchtigter Puppeninsel bringen.
Die großen, bunten Holzboote bieten jeweils Platz für etwa 14 Personen. Der Preis für eine Tour zur Isla de las Muñecas beträgt pro Boot rund 2400 mexikanische Pesos (umgerechnet ca. 116 Euro), ganz gleich ob man das Boot allein mietet, zu zweit oder mit einer größeren Gruppe. Wer allein unterwegs ist und Geld sparen möchte, schließt sich am besten mit anderen zusammen und mietet das Boot dann gemeinsam. Da an den Bootslegern diverse Touren unterschiedlicher Länge und Dauer angeboten werden, sollte man darauf achten, dass die Puppeninsel mit auf dem Programm steht. Ein Stopp dort ist in der Regel nur auf den längeren, rund vierstündigen Bootsfahrten enthalten.
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Xochimilco – ein beliebtes Ausflusgziel
Die „Schwimmenden Gärten“ von Xochimilco, die seit 1987 zum Unesco-Weltkulturerbe zählen, sind insbesondere an den Wochenenden ein beliebtes Ausflugsziel. Und zwar in erster Linie für die Chilangos, wie sich die Einwohner von Mexiko-Stadt nennen. Auf den Booten geht es meist nicht gerade leise zu. Denn viele Mexikaner mieten die Trajineras samt Mariachi-Band. Zu mexikanischer volkstümlicher Musik wird mitunter auch reichlich Alkohol getrunken, meist in Form von Biermixgetränken, den sogenannten Micheladas. Wer Mexikos „Schwimmende Gärten“ also lieber in ruhiger Atmosphäre genießen möchte, sollte die Tour besser in der Woche und außerhalb der Ferienzeiten machen.
Eintauchen in eine unbekannte Welt voller Mythen und Geheimnisse
Ich habe die Isla de las Muñecas im November 2022 besucht. Da ich zuvor schon viel von der Insel gehört und gelesen hatte und ohnehin während meines Urlaubs in Mexiko-Stadt war, war für mich klar: Diesen unheimlichen Ort wollte ich mit eigenen Augen sehen. Gesagt, getan. Ich fuhr wohlweislich an einem Wochentag nach Xochimilco und mietete zusammen mit meinen Familienangehörigen aus Mexiko-Stadt eine Trajinera. Wir schipperten zunächst durch die Kanäle, vorbei an Feldern und Blumenwiesen, legten u. a. einem Stopp beim Axolotl-Museum (Axolotl sind Schwanzlurche, die nur als Dauerlarven vorkommen) ein und steuerten schließlich die berühmt-berüchtigte Puppeninsel an.
Nachdem wir die Eintrittsgebühr in Höhe von 50 Pesos (ca. 2,50 Euro) bezahlt hatten, durften wir uns auf der Isla de las Muñecas umsehen. In der Tat: Die Puppen sehen schauerlich aus – und Kinder werden bei dem Anblick vermutlich Albträume bekommen (daher für Kinder nicht geeignet). Erwachsene hingegen erwartet auf Mexikos Puppeninsel eine unbekannte Welt voller Mythen und Geheimnisse, in die es sich in jedem Fall lohnt, einzutauchen. Gudrun Brandenburg, Redakteurin bei TRAVELBOOK