8. Februar 2021, 6:09 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
1970 wurde Londons Highgate Cemetery zum Schauplatz eines Duells zweier selbsternannter Vampir-Jäger. Deren Anhänger schändeten in der Folge zahllose Leichen. TRAVELBOOK erzählt die unglaubliche Geschichte des Friedhofs.
Was sich im Jahr 1970 auf dem Londoner Friedhof Highgate Cemetery abspielte, klingt wie eine Gruselgeschichte aus dem Kino – leider handelt es sich hierbei nicht um ein fiktives Drehbuch…
Der Reihe nach: Um das Jahr 1800 platzt die Stadt förmlich aus allen Nähten, laut der offiziellen Webseite des Highgate Cemetery bevölkern schon damals etwa eine Million Menschen die Metropole an der Themse. Eine für damalige Zeiten unvorstellbare Zahl, Wohnraum ist knapp, die hygienischen Verhältnisse katastrophal, entsprechend hoch die Sterblichkeitsrate. So kommt es, dass in London schon bald der Platz ausgeht, um die Toten angemessen zu bestatten.
Leichen mit Löschkalk zersetzt
Demnach ist es zu der Zeit durchaus üblich, Leichen mit Löschkalk zu bestreuen, so dass sich die Körper schneller zersetzen. Auf diese Weise kann ein Grab bereits nach einigen Monaten „wiederverwendet” werden. Von 1833 bis 1841 entstehen schließlich insgesamt sieben neue Friedhöfe, um den untragbaren Zuständen beizukommen, denn bis dahin werden viele Begräbnisse auch nicht selten einfach illegal durchgeführt, Tote teils sprichwörtlich hinter dem Haus verscharrt.
Einer dieser neuen Friedhöfe ist der Highgate Cemetery, der wegen seiner erhöhten Lage über den Hügeln der Stadt schon bald zu einem „Friedhof der Reichen” avanciert – hier bestattet zu werden ist kostspielig. Gut Betuchte lassen für geliebte Angehörige oder auch sich selbst wahre Monumente für die Nachwelt errichten, zu seinen Hochzeiten wird Highgate von bis zu 40 Gärtnern gepflegt.
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Friedhof muss vergrößert werden
Die 1836 durch einen Beschluss des Parlaments gegründete „London Cemetery Company” streicht mit Highgate derartige Profite ein, dass der Friedhof 1856 sogar um acht Hektar Fläche vergrößert werden muss – in den 1860er Jahren finden hier mitunter bis zu 30 Begräbnisse pro Tag statt. Zur Beerdigung des damals berühmten Preisboxers Tom Sayers kommen mehr als 10.000 Trauergäste und namenhafte Vertreter der englischen Presse. Noch heute liegen auf dem Highgate Cemetery Persönlichkeiten wie Karl Marx oder Douglas Adams begraben, der Autor der berühmten Buchreihe um den Weltbestseller „Per Anhalter durch die Galaxis”.
Spätestens mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 aber verfällt Highgate immer mehr, denn das Personal wird größtenteils zum Kriegsdienst einberufen. Zudem hat das Interesse der Reichen Londons an pompösen Beerdigungen bereits vorher signifikant nachgelassen. 1960 schließlich muss die „London Cemetery Company” Bankrott anmelden. Doch das dunkelste Kapitel in der Geschichte von Highgate sollte erst ein Jahrzehnt später beginnen.
Das Vampir-Fieber bricht aus
Laut der lokalen Nachrichtenseite „My London” wendet sich am 6. Februar 1970 ein gewisser David Farrant in einem Leserbrief an die Lokalzeitung „Hampstead and Highgate Express” und behauptet, er habe auf dem Friedhof eine „graue Gestalt” gesehen, die dort herumgewandert sei. Daraufhin melden sich zahlreiche weitere Leser, die ebenfalls beanspruchen, dort Geister gesehen zu haben. Schließlich schaltet sich ein Mann namens Sean Manchester ein und mutmaßt, dabei könne es sich nur um Vampire handeln.
Eigentlich unglaublich, was dann geschieht: In der Folgezeit erscheinen immer mehr Berichte, in denen behauptet wird, der „König der Vampire“ höchstpersönlich spuke zwischen den Grabsteinen, auch würden hier immer wieder Rituale mit Schwarzer Magie durchgeführt. David Farrant und Sean Manchester steigern sich, angestachelt von der unerwarteten Aufmerksamkeit, in eine absurde Rivalität hinein, denn beide beanspruchen für sich, als Vampir-Jäger die bösen Geister von Highgate vernichten zu wollen.
Brutale Leichenschändung
Weitere Medien-Berichte entfachen in London ein Vampir-Fieber, sodass nur einen Monat später, am Freitag den 13. März, sich etwa 100 Menschen trotz Absperrungen und anwesender Polizei Zutritt zu dem Friedhof verschaffen, einige klettern dafür sogar über Mauern. In der Folgezeit werden immer wieder Gräber geschändet, so findet man am 1. August 1970 die verbrannte Leiche einer kopflosen Frau.
Wiederholt werden laut dem Reisemagazin „Atlas Obscura” auch Leichen gepfählt, ihnen also Holzpflöcke durchs Herz getrieben – dem Aberglauben nach eine Methode, um Vampire umzubringen. Zahlreiche Leichen werden ausgebuddelt und tauchen dann anderswo wieder auf, in einem besonders makabren Fall sitzt eine kopflose Leiche eines Morgens hinter dem Lenkrad des Wagens eines Unbeteiligten.
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Lomdons Highgate Cemetery heute sehr beliebt
Kurze Zeit später wird Farrant im August 1970 sogar verhaftet, als er, „bewaffnet” mit einem Kreuz und einem Holzpfahl, selbst über den Friedhof geistert. Farrant und Manchester verkünden 1973 ein obskures „Duell der Magier”, dieses findet allerdings niemals statt. Ein Jahr später muss Farrant dann ins Gefängnis für die „Beschädigung von Gedenkstätten und Störung der Grabruhe” – er selbst hatte offensichtlich Leichen geschändet. Er verteidigt sich erfolglos mit der Behauptung, die ihm zur Last gelegten Untaten seien in Wahrheit von Satanisten begangen worden.
Die Rivalität von Manchester und Farrant hält auch dann noch an, als das Interesse der Öffentlichkeit längst wieder abgeebbt ist und der Friedhof nur noch als Grusel-Kulisse in den Horror-Filmen eines lokalen Produktionsstudios von sich reden macht. Im April 2019 schließlich stirbt Farrant. Auf der offiziellen Webseite des Friedhofes findet man übrigens keine Hinweise auf die Vampir-Jagden, die hier einst stattfanden. Das hat wohl seinen Grund: Highgate Cemetery wird in den 1970er Jahren wieder zu neuem Leben erweckt und ist heute laut dem britischen „Guardian” der exklusivste Friedhof Englands: Ein Grab dort kostet 20.000 britische Pfund (ca. 22.700 Euro).
In der Tat ist Highgate wieder derart beliebt, dass er wohl spätestens im Jahr 2030wieder voll ausgelastet sein wird – daher gäbe es bereits die Überlegung, alte Gräber einfach neu zu vergeben. Highgate hat heute mehr als 50.000 Grabstätten, in denen mehr als 170.000 Menschen ihre letzte Ruhe gefunden haben. Und er ist eine beliebte Sehenswürdigkeit: Pro Jahr kommen etwa 100.000 Touristen auf den Friedhof.