20. April 2024, 9:22 Uhr | Lesezeit: 10 Minuten
Das Old Melbourne Gaol ist ein ehemaliges Gefängnis in der australischen Stadt Melbourne. Einst das berüchtigte Symbol eines gnadenlosen Justizsystems, sind die teils noch bestehenden Gebäude heute eine beliebte Sehenswürdigkeit in der Innenstadt, dem CBD, und gleichzeitig ein harter Kontrast dazu. TRAVELBOOK-Autorin Anna Wengel (jetzt Chiodo) ist hingefahren und hat ihre Erfahrungen für uns aufgeschrieben.
Nur langsam gewöhnen sich die Augen an das dunkle Schummerlicht. Gerade noch im schönsten grellen Sonnenschein in der Tasche nach einer Sonnenbrille gekramt, ist das schummrige Dunkel hier drinnen fast unwirklich. Vielleicht sind es auch die dicken dunklen Steinwände und vergitterten Fensterluken, entlang des langen Gangs des 1859 fertiggestellten Zellblocks, die nicht ganz reinpassen wollen in Melbournes Fröhlichkeit an diesem Samstagvormittag. Es ist ruhig hier. Kaum ein Mensch ist da. Links und rechts reihen sich die Zellen aneinander, eine trostlose kleine Kammer neben der nächsten, durchnummeriert und im Innern bestückt mit allerlei Informationsschildern, in Glaskästen ausgestellten Totenmasken, Beispielen dürftiger Zellausstattungen und anderen Gegenständen. Darüber weitere Reihen ähnlicher Zellen, umrahmt von Geländern, die so niedrig sind, dass ich mich unwillkürlich frage, wie viele Insassen hier wohl freiwillig in den Tod gesprungen sind. Willkommen im Old Melbourne Gaol, dem ehemaligen Gefängnis der australischen Metropole und Hauptstadt des Bundesstaats Victoria in Australien.
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Das Old Melbourne Gaol
Das Old Melbourne Gaol öffnete im Jahr 1845. Bis zu seiner Schließung im Jahr 1924 saßen hier tausende Menschen ein, die sich während dieser 79 Jahre etwas zu schulden kommen ließen. Die Vergehen reichten von Trunkenheit und kleineren Diebstählen, oftmals um die eigene Existenz zu sichern, bis hin zu Massenmord oder Wahnsinn (real oder bloß vermutet).
Dank des Goldrauschs in Australien in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts, verdreifachte sich nicht nur die Einwohnerzahl Melbournes, auch die Kriminalitätsrate nahm zu. Und so platzte das Gefängnis bald aus allen Nähten. Mit den Jahren erweiterte man es Stück für Stück, bis es 1964 schließlich den gesamten Block einnahm. Neben dem ursprünglichen ersten Zellblock umfasste es nun zwei weitere, ebenso wie Krankenhäuser, eine Kirche, einen Übungs- sowie einen Bestattungshof. Der zweite, 1859 fertiggestellte Zellblock, ist der, in dem ich mich während meiner von einem Audioguide begleiteten Tour bewege. Der dritte, in dem schließlich Frauen und Kinder unterkamen, existiert heute nicht mehr.
Das Gefängnis basierte auf einem System der Separation und Isolation. Neue Insassen und jene, die sich nicht bessern wollten (oder konnten), wurden in winzige Isolationszellen im Erdgeschoss gesteckt. Die Zellen, vor denen ich jetzt am Anfang meines Rundgangs stehe. 23 Stunden verbrachten Neuankömmlinge hier ohne jedweden Kontakt zur Außenwelt. Das Ziel: „Ihren Geist zu brechen und ihren Charakter zu reformieren“, wie es auf einer Infotafel heißt. Allein die Vorstellung, nur ein paar Minuten in diesen schmalen Zellen zu verbringen, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Je nach Körpergröße kann man hier vielleicht knapp die Arme ausbreiten, berühren möchte ich zumindest die dicken und irgendwie modrig riechenden Wände allerdings nicht. Kann man sich hier positiv „reformieren“? Ich bezweifle es. Dass hier der ein oder andere Geist gebrochen und gefügig gemacht wurde, kann ich mir schon eher vorstellen.
Ned Kelly
Der berühmteste Insasse des Gefängnisses, das heute zu den Top-Sehenswürdigkeiten Melbournes zählt, war Edward „Ned“ Kelly (1854 bis 1880). Ich habe zuvor immer wieder von ihm als dem australischen „Robin Hood“ gehört und bin gespannt, ob ich hier nun etwas mehr über die Gräueltaten rund um die landesweite Berühmtheit des umstrittenen Volkshelden erfahre.
Kellys Geschichte in Kurzform: Nach mehreren kleineren Vergehen fand sich Ned Kelly gemeinsam mit seinem Bruder Dan und zwei weiteren Freunden in der berüchtigten Kelly Gang zusammen. Gemeinsam durchstreiften sie Victoria, stahlen dabei Pferde und raubten Banken aus, geschützt von der lokalen Community. Schließlich ermordeten sie drei Polizisten und (als letzten großen Akt) nahmen 62 Menschen in einem Hotel als Geiseln. Die Polizei räucherte sie schließlich aus. Während die anderen drei Gangmitglieder noch am Tatort getötet wurden, wurde Ned Kelly mit zahlreichen Schusswunden ins Gefängniskrankenhaus gebracht, wo er sechs Wochen regenerierte. Anschließend wurde er zum Tode verurteilt und am 11. November 1880 als 101. Gefangener im Melbourne Gaol gehängt.
Dem berühmtesten Insassen des Old Melbourne Gaol wird vor Ort viel Raum gewidmet. Seine Geschichte steht auf Infotafeln an den Wänden, der Audioguide erzählt die Ned-Kelly-Geschichte in einem eigenen Kapitel und am Ende des langen Gangs im Erdgeschoss befindet sich linker Hand eine Zelle, vor der eine fast lebensgroße Pappfigur des berüchtigten australischen Bushrangers steht. In der Zelle wird eine von mehreren Totenmasken Ned Kellys ausgestellt.
Totenmasken und Phrenologie
Die Totenmasken, von denen einige zu den Ausstellungsstücken im Old Melbourne Gaol gehören, wurden damals zu Wissenschaftszwecken und schließlich auch für die Polizeiarbeit hergestellt. In Kurzform: Nach dem Ableben (oder der Tötung) eines Insassen wurde eine solche Totenmaske hergestellt, um die Kopfform zu studieren und mit dem Verhalten ihres Besitzers in Zusammenhang zu setzen. Diese angebliche Wissenschaft nannte man Phrenologie. „Eine Beule an einer bestimmten Stelle könnte auf eine ehrliche Person hinweisen und eine Mulde auf einen Mangel an Ehrlichkeit“, erklärt der Audioguide. Als Versuchs-Beispiel nennt der Sprecher den Bereich direkt über der Stirn in der Mitte und erklärt, dass damals angenommen wurde „dass dieser Bereich Ihr Wohlwollen kontrolliert. Mit anderen Worten, wie freundlich oder gut Sie sind. Hoffentlich haben Sie eine große Beule.“
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Strafen im Old Melbourne Gaol
Straf-Zellen
Gegenüber der Zelle mit Ned Kellys Totenmaske im Erdgeschoss ist ein Loch in den dicken Stein gehauen. Ich muss mich hinknien, um hineinblicken zu können. Mauerstücke rund um kleine freie Räume sind hier zu sehen, die in die Tiefe führen. Auf einer Tafel wird erklärt, was hier zu sehen ist: Straf-Zellen im Untergeschoss des benachbarten Frauen-Zellblocks, ohne Fenster. Dort wurden die Gefangenen tagelang eingesperrt, wenn sie zum Beispiel geflucht oder sich anderweitig zur Wehr gesetzt hatten – ohne Licht, ohne Geräusche, ohne menschlichen Kontakt und mit wenig Essen. Dass hier einige Insassen verrückt geworden sind ist anzunehmen (was wiederum unter Strafe stand).
Peitschen
Auf der rechten Seite des Untergeschosses, unter den Treppen, die zu den beiden oberen Stockwerken führen, steht ein großer Glaskasten. Darin ist ein triangelförmiges, fast mannsgroßes Gebilde ausgestellt. Daneben steht ein weiterer Glaskasten mit diversen Bestrafungsmitteln darin: Beineisen, diverse Peitschen wie die sogenannte Cat-o-nine-tails, ein Rohrstock und eine Rute.
Ich setze mich auf eine Bank unter der Treppe, um meine Gedanken zu sortieren und mir Notizen zu machen. Da erscheint eine sechsköpfige Familie neben mir. Während der Vater seinen geschätzt vier-, sechs-, zehn- und 14-jährigen Kindern überaus anschaulich erklärt, wie ein Mensch über die Bank gestreckt und ausgepeitscht wurde, veranschaulicht die älteste Tochter die Erklärungen mit gekonnt aussehenden Handbewegungen. Kurz darauf entdeckt der kleinste Sohn eine herumliegende Peitsche – und jedes Familienmitglied darf nacheinander herausfinden, wie sich das Ausgepeitschtwerden anfühlt, scheint Papa große Freude daran zu finden. Ich versuche mich im Nicht-urteilen zu üben und schaffe es nicht. Mir wird schlecht. Und das nicht nur von dem süßlich-modrigen Geruch, der mir seit gut einer Stunde in der Nase hängt.
Galgen
Das Gefühl wird nicht besser, als ich die Stufen nach oben steige, in die erste Etage. Dort angekommen blicke ich auf einen riesigen Balken. Von dem hat der Audioguide bereits berichtet. Ein festgeknotetes Seil hängt hier. Es ist der Ort, an dem ab 1865 insgesamt 51 der 133 Erhängten des Old Melbourne Gaol starben, unter ihnen Ned Kelly. Die anderen hängte man außerhalb des Zellblocks, sechs vor dem Gefängnis, wo das morbide Spektakel massenweise Schaulustige anzog, 76 innerhalb der Gefängnismauern. Einige Besucher des Old Melbourne Gaol stehen vor und neben dem Galgen. Schauen und schweigen. In den Zellen zur Linken wird die Geschichte der Henker und ein paar ihrer Opfer erzählt.
Auch Kinder unter den Gefangenen
Ich gehe von der Treppe am Geländer entlang in Richtung des Todesbalken und werfe einen Blick nach unten. Das Old Melbourne Gaol ist inzwischen voller Besucher. Viele von ihnen mit ihren Kindern, einige allein, einige mit Partner, wieder andere mit ihren schlafenden Babys in Trage oder Kinderwagen. Die tummeln sich in den engen Zellen und in dem geräumigen Gang. Ich trete an eine große Informationstafel heran und lese zu meinem Entsetzen, dass nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Kinder unter den Gefangenen des Melbourne Gaol waren. Inhaftierte Frauen brachten teilweise ihre Babys und Kinder mit oder gebaren sie hier. Teilweise waren es auch Kinder selbst, die als Gefangene hierhergebracht wurden. Bis zum Bau des Frauen-Zellblocks waren die Frauen, wo möglich nach Geschlechtern getrennt, im Zellblock der Männer untergebracht. Dort arbeiteten ausschließlich männliche Wärter. „Die Frauen waren oft entwürdigenden und gefährlichen Situationen ausgesetzt“, heißt es auf der Infotafel.
In den Zellenreihen auf der rechten Seite informieren weitere Tafeln über die Gründe der Inhaftierungen von Kindern und Frauen sowie über einzelne Insassinnen. Teilweise kamen Achtjährige hierher, die meisten Kindern waren zwischen zwölf und 18 Jahren. Allein in 1874 soll einer von 200 Gefangenen im Schnitt unter 15 Jahren alt gewesen sein. 1875 waren es insgesamt 262 Kinder unter 15, 39 von ihnen unter zehn Jahren.
Und warum? Oftmals wegen jugendlichem Unsinn. Das englisch-australische Wort „larrikin“ taucht an dieser Stelle immer wieder auf. Der Begriff umschreibt eine, oftmals junge Person, die sich entgegen der sozialen Konventionen verhält. Die jugendlichen Straftaten reichten vom Herumlungern und Obdachlosigkeit bis hin zu ernsthaften Vergehen wie Diebstählen, Aggression und Übergriffen. Mehr als 7.000 Menschen verhaftete man demnach für „Larrikin“-Straftaten in den frühen 1890er Jahren. Auch für die Eltern „unkontrollierbare“ Kinder konnten ins Gefängnis gesteckt werden, wobei Mädchen oftmals in Besserungsanstalten geschickt wurden.
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Militärisches Wachhaus im Zweiten Weltkrieg
Noch ein Stockwerk höher fällt mir nicht nur die plötzliche Helligkeit im Vergleich zum unteren Dunkel auf. Auch die Zellen sind hier ungleich größer. Der Audioguide erklärt: Nach der Einzelhaft im Erdgeschoss kamen die Gefangenen in die oberen beiden Stockwerke. Dort teilten sie sich fortan die Zellen mit anderen Gefangenen. Hier oben informieren verschiedene Informationsschilder über die Rolle des Old Melbourne Gaol im Zweiten Weltkrieg. Ursprünglich 1924 geschlossen, öffnete man das kaum veränderte Gefängnis im Jahr 1942 erneut, als Haftbaracken für australische Soldaten. Viele von ihnen kamen etwa dann hierher, wenn sie „awol“ (absent without leave) waren, also ohne Abmeldung abwesend vom Dienst. Die Gründe dafür sind verschieden: kranke Mütter, sehnsüchtig vermisste Geliebte oder die Suche nach ein bisschen Spaß und Ablenkung. Auch Soldaten, die sich betrunken hatten, landeten in dem einstigen Gefängnis. Hinzu kamen ein paar Kriegsgefangene und Kriegsverbündete, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten.
Wieder vor der Tür des Old Melbourne Gaol laufe ich noch ein paar Minuten auf dem Gefängnisinnenhof und um das Gebäude herum und schaue mir an, was sonst von dem einstigen Gefängnis übrig geblieben ist. Auf einer Karte ist zu sehen, wo einst was stand. Einige Gebäude sind verschwunden, andere umfunktioniert worden. Die RMIT University scheint sich einfach um das alte Gefängnisgemäuer herumgruppiert zu haben. Der harte Kontrast zwischen dem alten Gräuel und dem modernen Unileben wird nur verstärkt durch den traumhaften Melbourner Sonnenschein. Der vermag es trotz aller Stärke nicht, das Dunkelgrau der Mauern zu erhellen. Hinzu kommen die hunderte Meter hohen Wolkenkratzer, die umso mehr hinter den Gefängnismauern um die Wette strahlen.