13. Juli 2020, 6:18 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Zu Besuch in Melbourne hat unsere Autorin Anna Wengel immer wieder gehört, wie außergewöhnlich das William Ricketts Sanctuary auf dem Berg Mount Dandenong sei. Sie hat die Outdoor-Galerie besucht und neben fast lebensechten Aborigine-Skulpturen auch Hinweise auf zwei Geister entdeckt.
Ein kleines, pausbackiges Kind steht da. Still. Schaut mich an. Scheint mich mit seinen Augen zu verfolgen, während es gleichzeitig ins Leere guckt. Das wellige, dicke Haar überzogen von Moos, das auch die breite Nase und die vollen Lippen grün färbt, ebenso wie weite Teile seines lehmfarbenen Körpers. Hinter dem Kind zieht sich dichter australischer Busch den Hang hinauf. Es ist ungewöhnlich still für so viel Natur.
Ich schaue näher hin. Überall tauchen sie auf: aus Lehm geformte Figuren, eine echter wirkend als die andere. Ich kann mir fast vorstellen, wie die 92 Skulpturen nachts zum Leben erwachen und durch das dichte Grün aus Farnen, Eukalyptus und zahlreichen anderen Grünpflanzen und Bäumen wandern, auf der Suche nach ihrem Meister, William Rickett.
Spuken im William Ricketts Sanctuary zwei Geister?
Dieser Ort hat etwas Eigenartiges an sich. Ich weiß nicht, wie ich es treffend beschreiben soll. Da ist diese ungewöhnliche Ruhe. Mystisch, ein bisschen unheimlich. Da sind diese Menschen-Skulpturen, die überall am Wegesrand, eingebettet in die dichte Natur stehen. Und einen anstarren. Das fühlt sich komisch an. Fast ein bisschen unangenehm. Es ist aber noch etwas anderes, das, was ich eben nicht erklären kann. Vielleicht stimmt es ja, was Menschen sagen. Dass hier ein Geist lebt. Vielleicht auch mehrere.
Rickett, der 1898 geborene Künstler, der diese Draußen-Galerie geschaffen und hier seit 1934 gelebt hat, versetzte sein Fußbodenloses Blockhaus, überzeugt davon, dass es an der Ursprungsstelle spukte. (Die Gebrechlichkeit seiner Mutter war allerdings auch ein Grund für den Haus-Umzug.)
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So steht es auf einer Tafel im William Ricketts Sanctuary, das seit 1964 für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Der andere Geist, der hier (wenn überhaupt) noch viel wahrscheinlicher spukt, ist der von Rickett selbst. Die Überreste des Australiers wurden nach seinem Tod 1993 in seinem Heiligtum verstreut. Und wieso sollte sein Geist den Ort auch verlassen, war der zu Lebzeiten schon sein persönliches Paradies, das er selbst als „Forest of Love” (zu Deutsch: „Wald der Liebe”) bezeichnete. Bei der Recherche zu diesem Text habe ich den Blog einer Frau gefunden, die sogar den Geist Ricketts auf einem Foto gesehen haben will.
Inspiration und Selbstdarstellung
Ob er hier spukt oder nicht, Rickett hat zu Lebzeiten eine ganz besondere Kunstgalerie geschaffen, einen Schrein für alles, an das er geglaubt und das er verehrt hat. Hoch oben auf Mount Dandenong, dem Stadtberg Melbournes, modellierte der Australier Figuren aus Lehm, die den indigenen Einwohnern aus den Stämmen Pitjantjatjara und Arrernte in Central Australia nachempfunden sind, wie unter anderem „Atlas Obscura” schreibt.
Angeblich stellen die Figuren einzelne Personen dar, die Rickett während seiner Reisen ins Northern Territory zwischen 1949 und 1960 kennenlernte. Dort kam er auch mit indigenen Traditionen und Riten in Kontakt und lernte, wie dort Mutter Natur und ihre Geschöpfe geehrt werden. 1970 reiste der Künstler nach Indien, wo er zwei Jahre überwiegend im Ashram lebte und die dort zelebrierte spirituelle Glaubens- und Lebensweise kennenlernte.
Rickett formte aus dem Gelernten seine eigene philosophische Lebensweise. Er glaubte, dass wir alle eins und Teil der Erde und des Universums sind. Auf Tafeln überall in der 1,7 Hektar großen Outdoor-Galerie hat er Gedanken und Überzeugungen festgehalten. Hier finden sich Sätze wie „A pure imagination born to man in a state of true freedom and wrought in fire is to be desired above all things” (zu Deutsch etwa: „Eine reine Vorstellungskraft, geboren im Zustand wahrer Freiheit und geschmiedet im Feuer, ist mehr als alles andere erstrebenswert”).
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Neben der Niederschrift zahlreicher Glaubenssätze, nutzte Rickett seine Kunst auch, um Kritik zu üben. Etwa an der Ausbeutung der Umwelt nach der europäischen Besiedlung in Australien. Seine Figuren formte er nicht nur aus Naturmaterialien, er stellte sie auch mitten hinein in die Natur und integrierte sie in bereits bestehende Felsen und Baumreste. Eine Erinnerung an die Verbindung zwischen Menschen und Erde.
Neben den Figuren finden sich zahlreiche tierische Einwohner Australiens wie etwa Opossums und Kängurus. Genauso wie ein Mann, der sich äußerlich von den indigenen Darstellungen unterschiedet – und immer wieder zu sehen ist: Rickett selbst. Seine Selbstdarstellungen haben etwas Erhabenes. Etwa dann, wenn er – wie am Anfang des Rundgangs – mit nacktem Oberkörper aus einem Känguru-Unterkörper entspringt, mit wildem Haar und aus seiner Höhe hinunterblickend.
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Kritik an William Rickett
Die narzisstisch anmutende Selbstdarstellung des Künstlers ist ein Phänomen, das Kritiker oft aufgreifen. Häufig in Kombination mit dem Vorwurf, dass sich Rickett fast heroisch und als Retter der Ureinwohner darstelle. Auch Ausbeutung der indigenen Bevölkerung zu seinen Zwecken wird ihm unterstellt, ebenso wie teilweise rassistische Ansätze. Ricketts Philosophie ist klar respektvoll und macht alle Menschen, Tiere & Co. gleich(wert).
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Dass er die Skulpturen gemeinsam mit Tieren ins Naturumfeld setzt, wird jedoch mit einer alten rassistischen Ideologie in Verbindung gebracht, nach der Ureinwohner eher zu den Tieren als Menschen gehören sollen. Auch die Vielzahl an Kinderfiguren sehen Skeptiker kritisch, wurde die intuitiv gesteuerte Lebensart der Indigenen von Rassisten als kindlich emotional abgeurteilt. So schreibt es etwa das australische und britische Magazin „The Conversation”.
Dass Rickett ein relativ exzentrischer und teils abgehobener Mann war, kann kaum abgestritten werden. Dass er vielen seiner Landsleuten zu der Zeit gedanklich und emotional weit voraus war und schon früh erkannte, dass Rationalität bei Weitem nicht die einzige Stärke des Menschen ist, ist offensichtlich. Ob dahinter nun auch rassistische Gedanken standen, kann ich nicht klären. Rassismus gegen Ureinwohner war zu seinen Lebzeiten allgegenwärtig, gleichzeitig erklärte er auch, dass er glaubte, selbst von denen abzustammen. Mir persönlich erschien das William Ricketts Sanctuary wie eine Hommage an die Kultur der indigenen Einwohner Australiens und Spielplatz eines spirituellen Künstlers.
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Ob zur kritischen Betrachtung oder einfach nur zum Genießen, Rickett hat eine sehr sehenswerte –und kostenlos betretbare – Kunstgalerie geschaffen, die Melbourne-Besucher nicht verpassen sollten. Übrigens wie den Mount Dandenong selbst, ein wildbewachsener Berg mit Traumaussicht auf die Skyline und umliegenden Vororte Melbournes.