6. Dezember 2020, 7:34 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Um seine Entstehung ranken sich zahlreiche Legenden, Mächtigen war er immer wieder ein Dorn im Auge. Auf einem Hügel nahe einer kleinen litauischen Stadt stehen mehr als 100.000 Kreuze. TRAVELBOOK erzählt die Geschichte dahinter.
Es gibt Orte auf der Welt, die so einzigartig und besonders sind, dass eine ganz besondere Magie von ihnen ausgeht. Ein solcher ist der Kryžių Kalnas, der sogenannte Hügel der Kreuze nahe der litauischen Stadt Šiauliai: Auf einer Erhebung steht mitten in der ansonsten flachen Landschaft ein kleiner Berg, der vollständig mit Kreuzen jeder Form und Größe bedeckt ist. Das Besondere dabei ist, dass niemand wirklich weiß, wann und wie er einst entstanden ist – aber natürlich ranken sich um diese Geschichte zahlreiche Legenden.
Eine davon erzählt von einer dem Untergang geweihten Kirche, die hier einst anstelle des Hügels gestanden haben soll: Laut „BBC” habe ein Blitz während einer Messe das Gotteshaus getroffen, und ein Sturm es anschließend unter Sand und Steinen begraben. Nicht wenige Einheimische berichten, seitdem könne man dort bei Sonnenaufgang manchmal eine ganze Prozession von Geistern beobachten, aber auch Heiligen-Erscheinungen soll es hier schon gegeben haben.
Ein Berg aus Leichen
Eine andere, nicht weniger schaurige Entstehungsgeschichte handelt von einer mächtigen Burg, die hier einmal gestanden haben soll. Demnach kämpften zwei Heere gegeneinander, und die unterlegene Armee warf die Leichen ihrer gefallenen Kameraden nach der Schlacht einfach in ein Massengrab, aus dem dann der Hügel erwuchs.
Die wohl schönste Geschichte aber berichtet von einem Vater, dessen Tochter im Sterben lag. Der Mann hatte eine Vision, in der eine geheimnisvolle Frau ihm sagte, er solle dort, wo sich heute der Hügel befindet, ein Kreuz aufstellen. Er tat wie ihm geheißen, und als er nach Hause zurückkehrte, fand er seine Tochter wohlauf und gesund. Seitdem ließen immer wieder Menschen Kreuze an dem Ort, in der Hoffnung, dass sich ihre Gebete erfüllten.
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Bis heute sind so mehr als 100.000 Kreuze zusammengekommen, die den Hügel über und über bedecken, dazu unzählige Statuen von Heiligen, Rosenkränze und andere religiöse Devotionalien. Für Gläubige aus aller Welt ist er ein wichtiger Wallfahrtsort geworden, und mittlerweile finden sich hier auch Zeugnisse jüdischen und muslimischen Glaubens wieder. Und der Hügel der Kreuze ist auch ein Ort der Erinnerung, denn es war der Glaube an sich, der in Litauen in der Vergangenheit gewaltsam unterdrückt wurde.
Immer wieder zerstört, immer wieder aufgebaut
Im 19. Jahrhundert gehörte Litauen zum russischen Zarenreich, und allein der Gedanke an eine eigenständige Nation, wie sie sich erst über 100 Jahre später bilden sollte, war bei Strafe verboten, wie „National Geographic” berichtet. Zar Alexander II. war daher auch die Ausübung des Glaubens als Möglichkeit der Zusammenkunft ein Dorn im Auge, weswegen Familien ihre Toten oft nicht nach ihren christlichen Ritualen bestatten durften. Die Angehörigen ließen dann wohl jeweils ein Kreuz auf dem Hügel, zur Erinnerung an die Verstorbenen.
Noch schlimmer traf es das Land und seine Einwohner unter der Herrschaft der Sowjetunion, denn auch deren Mächtige störten sich an jedweder Religion, die sie als vermeintliche Gefahr für den Staatsapparat sahen. Und so kam es, dass der Hügel der Kreuze 1961 zum ersten Mal mit Bulldozern planiert und verbrannt wurde, um die vermeintlich konspirative Stätte zu vernichten. Doch es half nichts, auch die Androhung von Geldstrafen und Gefängnis konnte die Menschen nicht davon abhalten, an dem Ort einfach wieder neue Kreuze aufzustellen. Insgesamt fünfmal wurde der Ort von den Sowjets zerstört – und genauso oft wieder aufgebaut.
Jeder kann ein Teil der Geschichte werden
Seitdem Litauen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 seine Unabhängigkeit erlangte, wächst auch der Hügel der Kreuze immer weiter an – in der Tat ist das Herstellen von Kreuzen in dem Land sogar ein von der Unesco anerkanntes, immaterielles Weltkulturerbe. Der Ort wird heute verwaltet von der Stadt Šiauliai und einheimischen Franziskaner-Mönchen und steht jedermann offen. Jeder, der möchte, kann dort sein ganz persönliches Kreuz niederlegen – und damit ein Teil der Geschichte des Kryžių Kalnas werden.