29. März 2021, 17:18 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Um der Welt eine vermeintliche Überlegenheit zu demonstrieren, baute die DDR das kleine Dorf Mestlin in den 1950er Jahren zur Modellstadt des Sozialismus aus. Das Experiment schlug allerdings schon bald fehl. Was ist aus dem Ort geworden?
Am 15. November 1951 beschließt die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, dass für die Menschen in dem kleinen Nest Mestlin in Mecklenburg-Vorpommern ein neues Leben beginnen solle – ohne diese jedoch vorher zu fragen oder zu informieren. In einem Schreiben der Abteilung Städtebau an die Landesleitung der Partei SED in Schwerin heißt es nur: „Wir teilen Ihnen hierdurch mit, dass wir das Dorf Mestlin als Muster für ein Beispieldorf entwickeln und als Modell auf dem Deutschen Bauerntag in Leipzig auszustellen beabsichtigen.“
Was damit gemeint ist, beschreibt die Autorin Pia Volk in ihrem Buch „Deutschlands schrägste Orte. Ein Fremdenführer für Einheimische“: Jeder soll sehen können, wie gut der Sozialismus vermeintlich doch funktioniert. Als Schaufläche dafür sollen ein kleines Dorf und seine Bewohner herhalten. Schon bald rücken die Bagger an, werden in dem Ort mit wenigen hundert Einwohnern ein riesiges Kulturhaus, drei überdimensionierte Wohnblöcke, ein Sportplatz und schließlich sogar ein Krankenhaus gebaut.
Das Dorf, in dem es fast alles gab
Außerdem entstehen eine Schule und eine Kindertagesstätte, ein Supermarkt, ein Bäcker, ein Bekleidungsgeschäft, ein Schuhladen sowie ein sogenannter „Industriekonsum“, in dem man unter anderem Fahrräder und Haushaltsgeräte erwerben kann. Die DDR will der Welt zeigen, dass es sich auf dem Land genauso komfortabel leben lässt wie in jeder größeren Stadt. Man ist offenbar so berauscht von der eigenen Idee, dass allein in Mecklenburg-Vorpommern ursprünglich fast 500 Dörfer nach dem Vorbild von Mestlin entstehen sollen – am Ende bleibt das Musterdorf jedoch ein einzigartiges Experiment.
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Eines, das zunächst einmal ausgezeichnet zu funktionieren scheint: In dem gewaltig überdimensionierten Kulturhaus, einem Bau mit 57 Meter Länge, finden regelmäßig Veranstaltungen statt: Kino, Theater, Lesungen, das Angebot ist mit dem in jeder Großstadt vergleichbar. Laut dem „NDR“ besuchen bis zur Wende jährlich bis zu 50.000 Menschen die Veranstaltungen dort. Kinder und Jugendlich aus den umliegenden Dörfern strömen in die Mestliner Schule, die Regale im Supermarkt sind hier immer gut gefüllt. Auch die sonst üblichen langen Wartezeiten auf Dinge wie Mopeds oder Haushaltswaren kennt man in Mestlin so gut wie nicht.
Politiker aus aller Welt zu Gast
Das Rückgrat und den Stolz der DDR bildet die zur damaligen Zeit größte Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG), man bestellt in und um Mestlin eine Fläche von unvorstellbaren 2300 Hektar. Nachdem der Bau des Musterdorfs 1959 abgeschlossen ist, hat sich die Bevölkerungszahl um einige hundert Menschen vergrößert, Mestlin ist wegen seiner umfangreichen Angebote vor allem für junge Familien attraktiv.
Der vorübergehende Erfolg spricht sich schnell herum, der damalige chinesische Bauminister kommt zu Besuch, auch Politiker aus Ländern wie der Sowjetunion, Bulgarien, Polen und Tschechien geben sich die Klinke in die Hand. Jedoch geht es mit Mestlin ganz langsam bergab, denn die Landwirtschaft wirft bei Weitem nicht das ab, was sich die DDR erwartet. So haben die Bauern für die Bestellung der Felder nur veraltete Technik zur Verfügung, zudem sinken nicht selten Maschinen einfach in dem feuchten Feldboden um Mestlin ein. Auch die Viehzucht gerät zum Debakel, weil die Menschen, verkürzt gesagt, schlicht nicht wissen, was man dafür tun muss.
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Der Anfang vom Ende des Vorzeigedorfs Mestlin
Schon bald beginnt daher eine Landflucht, denn zahlreiche Bauern werden wegen der ausbleibenden Erfolge regelrecht schikaniert. Mitunter durchsucht man deren Häuser, weil vermutet wird, dass sie ihre Erträge (die es gar nicht gibt) vor dem Regime verstecken wollen. In der Folge verwahrlosen zahlreiche Höfe, und da es in Mestlin außerhalb der Landwirtschaft kaum Arbeitsplätze gibt, wandern schon bald noch mehr Menschen ab.
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So verfällt das einstige Vorzeige-Dorf immer mehr, das einst so stolze Kulturhaus wird in den 1980er Jahren als Schaustätte für Boxkämpfe genutzt, die einstmals riesige LPG teilt sich in mehrere kleine Betriebe, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Der Todesstoß kommt nach der Wende. Zwei der drei Appartement-Blöcke werden wegen Leerstand abgerissen, immer mehr Menschen flüchten auf der Suche nach Arbeit, die es in Mestlin nicht mehr gibt.
Zum Glück bedeutet das Ende der DDR aber nicht auch das Ende von Mestlin als solchem, noch heute leben in dem Dorf mehr als 800 Menschen. Auch das alte Kulturhaus, dass zwischendurch als Spielhölle oder gar als Großraum-Diskothek genutzt wurde, wird heute wieder betrieben. Seit 2008 kümmert sich ein Verein darum ,im Jahr 2011 wurde das Gebäude als nationales Denkmal anerkannt. Seit 2017 ist es wieder für Veranstaltungen geöffnet. Und so sieht es aus, als könnte das Dorf mit der skurrilen Vergangenheit auch wieder eine Zukunft haben.
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