2. Januar 2020, 15:46 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Wer sich Fotos von Piobbico ansieht, dem dürften Attribute einfallen wie idyllisch, gemütlich, hübsch, vielleicht auch urtümlich. Ganz sicher aber würde niemand behaupten, dass der Ort in der italienischen Region Marken hässlich sei, geschweige denn die Menschen, die dort wohnen. Und doch gilt Piobbico über die Grenzen Italiens hinaus als das „Dorf der Hässlichen“, und die Einwohner tragen diesen auf den ersten Blick wenig rühmlichen Titel mit Stolz. TRAVELBOOK erklärt, was dahintersteckt.
Im 19. Jahrhundert ereilte Piobbico ein Schicksal, das damals auch viele andere Städte und Dörfer in Italien traf: Es herrschte akuter Männermangel. Grund waren die drei Unabhängigkeitskriege zwischen 1848 und 1870, in deren Zuge Tausende Soldaten ihr Leben gelassen hatten. Nicht nur ließen sie zahlreiche Witwen zurück, auch die Zahl der jungen unverheirateten Frauen stieg im Land immer weiter. Zitelle nannte man diese damals, was wohl am ehesten der etwas unschönen deutschen Bezeichnung „alte Jungfer“ entspricht.
In Piobbico aber wollte man sich mit dieser Tatsache nicht einfach abfinden und beschloss, das „Problem“ auf eigene Faust anzugehen: Also taten sich der Bürgermeister, der Pfarrer und einige weitere Dorfbewohner zusammen und gründeten im Jahr 1879 den Club dei Brutti, den „Club der Hässlichen“, dessen erklärtes Ziel es war, alleinstehende Männer im Land zu finden, die bereit waren, eine Ehe mit den durchaus heiratswilligen zitelle einzugehen.
„Das Ganze war also am Anfang eine Art Heiratsbörse“, sagt Benedetta Aluigi, Ratsmitglied und Sprecherin des noch heute bestehenden Club dei Brutti, auf Nachfrage von TRAVELBOOK. Ob und wie erfolgreich die Heiratsbörse ihren Zweck damals tatsächlich erfüllt hat, sei allerdings nicht überliefert. Bekannt sei nur, dass sich die Ausrichtung des Clubs etwa 100 Jahre später mit der Wahl eines neuen „Präsidenten der Hässlichen“ auf bedeutende Weise änderte und zu einer echten Institution wurde, die heute eher wie ein Verein ist.
Eine besondere Botschaft
Geändert hat sich auch die Botschaft, die hinter der ursprünglichen Idee steht: „Ein Teil des Club dei Brutti zu sein, bedeutet nicht, ästhetisch hässlich zu sein oder sich selbst zu verachten“, sagt Benedetta Aluigi. „Ganz im Gegenteil, es bedeutet, den Mut und die Intelligenz zu haben, einen Menschen um seiner selbst willen zu schätzen und nicht für das, was er besitzt oder wie er aussieht.“ Dies sei gerade in der heutigen Zeit besonders wichtig, in der viele nach Schönheitsidealen strebten, die unrealistische Maßstäbe setzten.
30.000 Mitglieder in der ganzen Welt
Inzwischen hat der Club der Hässlichen mehr als 30.000 Mitglieder aus der ganzen Welt und es werden immer mehr. Wer eintreten will, hat es recht einfach: Ältere Mitglieder müssen lediglich die „Hässlichkeit“ potenzieller Mitglieder beurteilen und einstufen – dies kann von „nicht spezifiziert“ bis zu „außerordentlich hässlich“ reichen.
Jedes Jahr im September findet in Piobbico das „Internationale Festival der Hässlichkeit“ statt, bei dem 2019 neben dem Club-Präsidenten erstmals auch der „Hässlichste Einwohner Italiens“ gewählt wurde. Der erste Gewinner dieses Titels heißt Daniele Poldo Isabettini und stammt aus der etwa eine Stunde entfernten Küstenstadt Fano.
Der 55-Jährige ist der erste, der diesen Titel tragen darf – und mächtig stolz darauf, wie er TRAVELBOOK auf Nachfrage verriet. „Mir ist sehr wichtig, dass es auch hässliche Menschen auf der Welt gibt, nicht nur die schönen“, sagt der 55-Jährige. Auf den Fotos vom Festival blickt Isabettini würdevoll in die Kamera und trägt eine Schärpe in den italienischen Nationalfarben, auf der Il più brutto d’Italia geschrieben steht, „der hässlichste Italiens“.
Aber warum hat man ausgerechnet ihn gewählt? „Er hat alle Eigenschaften, die man für diesen Titel braucht“, sagte Club-Präsident Giannino Aluigi dazu nach der Wahl der italienischen Zeitung „Il Resto del Carlino“. Welche Eigenschaften das genau sind, ließ Aluigi indes offen. „Vielleicht haben sie sich so entschieden, weil ich in ihren Augen einfach der Hässlichste von allen bin“, sagt Isabettini selbst dazu.
Es geht um die innere Schönheit
Zugegeben: Man würde den groß gewachsenen Mann mit den etwas schief stehenden Augen, den herunterhängenden Mundwinkeln und den leicht abstehenden Ohren vielleicht nicht unbedingt als Schönheit bezeichnen, aber wirklich unansehnlich ist er ebenso wenig. Letztendlich liegt es im Auge eines jeden Betrachters, was er als schön oder hässlich bezeichnet. Und genau darum geht es dem Club laut Sprecherin Benedetta Aluigi auch im Grundsatz: „Wir haben keine Angst vor Hässlichkeit, wir haben keine Angst vor Fehlern, im Gegenteil, wir entdramatisieren diese und versuchen allem, was einen Menschen von innen schön macht, Bedeutung zu geben.“
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Was Piobbico sonst noch zu bieten hat
Wer es nicht gerade im September zum Festival dei Brutti nach Piobbico schafft, wo natürlich nicht nur der Titel vergeben, sondern auch viel gegessen und getrunken wird, kann auf dem zentralen Dorfplatz eine Statue bewundern, die der Hässlichkeit gewidmet ist.
Aber auch ansonsten hat das 2000-Einwohner-Städtchen seine Reize für Besucher: Es liegt am Fuße des Monte Nerone im Apennin, wo man Wandern, Radfahren, Paragleiten und Höhlen besichtigen kann. Ebenfalls sehenswert: das Schloss Brancaleoni mit seinem unterhalb gelegenen mittelalterlichen Dorf, das noch teilweise bewohnt ist. Auch kulinarisch hat Piobbico einiges zu bieten: So werden in der Gegend nicht nur hervorragende Weine angebaut, sondern man findet dort auch den Weißen Trüffel, der in zahlreichen Gerichten der Region verarbeitet wird.
Die schönen Strände der Adria sind in nur 30 Minuten erreicht und auch der von Italien umschlossene Kleinstaat San Marino ist nicht weit entfernt.