31. August 2023, 11:24 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Nur noch etwa 2000 Menschen sprechen Saterfriesisch – und das mitten in Deutschland. Damit ist es die seltenste Sprache in ganz Europa. Sie erlebt aber seit den 80er Jahren ein Comeback. Zu verdanken ist das vor allem einem einzelnen Mann…
Wer im Münsterland zwischen Oldenburg, Cloppenburg und Leer unterwegs ist, der wird sich vermutlich wundern, dass in der Gemeinde Saterland zweisprachige Ortsschilder die Reisenden grüßen – da heißt es dann zum Beispiel Sedelsberg (Seedelsbierich), Scharrel (Skäddel), Ramsloh (Roomelse) und Strücklingen (Strukelje). Der Grund dafür ist, dass im Saterland mit dem Saterfriesisch auch heute noch eine eigene Sprache gesprochen wird, die sich über die Jahrhunderte entwickelt und erhalten hat.
„Gouden Mäiden“, sagt der Saterfriese, wenn er „Guten Morgen“ wünscht, doch dieser Gruß wurde in der Vergangenheit immer seltener, so sprechen aktuell laut einer Schätzung der Gemeinde nur noch gut 2000 Menschen die alte Sprache. Seit 1999 ist sie von der EU offiziell als Minderheitensprache in Deutschland anerkannt – die zweisprachigen Ortsnamensschilder stehen seit dem Jahr 2000. Bereits 1991 schaffte sie es sogar bis ins Guinness-Buch der Rekorde, so gilt das Saterland als die kleinste Sprachinsel in ganz Europa.
„Das Saterfriesische hat sich vermutlich zwischen den Jahren 800-1000 nach Christus entwickelt“, sagt Karl-Peter Schramm, der einst Vorsitzender im friesischen Heimatverein „Seelter Buund” und selbst mehr als 40 Jahren im Saterland zu Hause war, vor drei Jahren in einem Interview zu TRAVELBOOK. „Die Sprache stammt aus den heutigen Niederlanden, damals kamen Menschen von dort in unsere Gegend. Sie siedelten sich, da sie meist übers Meer kamen, zunächst an der Küste an, bevor dann große Sturmfluten und Überbevölkerung sie in unsere Region trieben.“
Einst nur per Boot zu erreichen
Den Begriff Sprachinsel kann man dabei sogar wörtlich nehmen, denn genau das war das Saterland in der Vergangenheit: eine Insel, mitten in riesigen sie umgebenden Mooren, 16 Kilometer, fast abgeschottet von der Außenwelt – zu erreichen nur per Boot, oder, wenn im Winter die Moore zufroren, zu Fuß. So lässt es sich auch erklären, dass die Sprache Saterfriesisch sich über so lange Zeit erhalten konnte, auch wenn das Saterland heute längst nicht mehr so abgeschieden liegt.
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Wie der „Weser Kurier“ berichtet, war Saterfriesisch noch im Mittelalter in ganz Ostfriesland verbreitet, jedoch wechselten viele Friesen im Laufe der Zeit zur Benutzung des Niederdeutschen. Nicht jedoch im Saterland, was den Bewohnern der Sprachinsel auch manches Mal von Nutzen gewesen sei – so gaben sie mitunter vor, missliebige Anordnungen der Obrigkeiten einfach nicht zu verstehen. Heute sprechen laut Schramms Einschätzung noch etwa 1500 bis 2000 Menschen Saterfriesisch, vor allem durch Zuzüge seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sei die Sprache immer mehr unter „Anpassungsdruck“ geraten.
Ein Afroamerikaner rettet die Sprache
Dass es sie aber auch heute noch gibt, ist zu einem großen Teil den Bemühungen des afroamerikanischen Linguisten Marron Curtis Fort zu verdanken, der 1985 von Boston aus ins ostfriesische Leer zog, um das Saterfriesische zu erforschen – die Sprache wurde zwar mündlich überliefert und beigebracht, jedoch gab es bis zu diesem Zeitpunkt kaum Niederschriften als Zeugnis für die Nachwelt. „Forts Leistungen kann man gar nicht hoch genug bewerten“, so Schramm. „Er hat unzählige Stunden bei alten Saterfriesen bei Tee und Kuchen verbracht und dabei einen Sprachschatz von etwa 30.000 Begriffen zusammengetragen.“
Fort sorgte dank seiner Professur für Niederdeutsch und Saterfriesisch an der Universität Oldenburg dafür, dass es heute sogar eine Art Duden „Deutsch-Saterfriesisch“ gibt. Er übersetzte das Neue Testament ins Saterfriesische, außerdem gibt es mittlerweile dank der Bemühungen anderer Sprachbegabter einige Bücher wie „Der kleine Prinz“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“ in der alten Sprache. Stefan Tröster-Mutz, Sprachwissenschaftler und Experte für das Saterfriesische an der Universität Oldenburg zu TRAVELBOOK: „Fort hatte die Gabe, die wichtigen Merkmale der Sprache aufzunehmen und sie dann zu sprechen. Irgendwann haben selbst Menschen, die Saterfriesisch aktiv sprechen, auf sein Wörterbuch zurückgegriffen, wenn sie sich an einen bestimmten Begriff nicht mehr erinnern konnten.“
Die Renaissance des Saterfriesischen
Inzwischen werden im Saterland auch Kurse in Saterfriesisch angeboten. Wie vielseitig die Sprache ist, zeigt sich laut Tröster-Mutz daran, dass in den vier eingangs erwähnten Orten, die zum Saterland gehören, jeweils ein anderer Dialekt gesprochen wird.
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Schon seit einiger Zeit schickt der Heimatverein „Seelter Buund” Ehrenamtliche in die Bildungseinrichtungen, die das Interesse für die Sprache bei Kindern als auch Erwachsenen nähren sollen. Ganz modern kann zudem jedermann über die App „Kleine Saterfriesen” am Smartphone oder Tablet lernen, sie ist kostenlos für Android und iOS erhältlich. „Wir sind optimistisch, unsere Sprache die nächsten 200 Jahre erhalten zu können“, so Schramm. Tröster-Mutz ergänzt: „Junge Sprecher reden heute anderes Saterfriesisch als alte – aber besser, es passiert so etwas, als dass sich die Menschen von der Sprache abwenden.“
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„Ich spreche immer noch nicht gut“
Sogar eine eigene „Nationalhymne“ hat das Saterland, in der es übersetzt heißt: „Leute gibt es viel und Länder, die auf Gottes Erde stehn, doch was geht wohl über Sater, übers kleine Saterland?“ Schöner kann man das Selbstverständnis einer Region wohl nicht beschreiben, die sich über die Jahrhunderte ihre ganz eigene kleine Welt erhalten hat.
Doch wie schwer ist es eigentlich für einen Laien, Saterfriesisch zu verstehen oder gar zu erlernen? Darüber sind die Meinungen der beiden Experten geteilt. „Das kommt sicher auch auf individuelle Begabung an“, so Tröster-Mutz, der sich seit 1993 mit der Sprache beschäftigt. „Aber grundsätzlich kann man es problemlos lernen.“ Ganz so optimistisch ist Karl-Peter Schramm nicht: „Ich beschäftige mich seit 30 Jahren Saterfriesisch, aber ich spreche immer noch nicht gut.“
Hinweis: Dieser Artikel ist erstmals in leicht abgewandelter Form im Oktober 2020 bei TRAVELBOOK erschienen und jetzt aktualisiert worden.