5. August 2023, 6:12 Uhr | Lesezeit: 11 Minuten
Seit Jahren schon wollte unser Autor Robin Hartmann den Havelradweg befahren. Der Abschnitt von Wittenberge nach Berlin ist nicht nur ideal für Einsteiger, sondern verläuft auf einer Strecke von etwa 200 Kilometern auch zumeist durch die wilde, vielerorts noch unberührte Natur entlang des Flusses. Doch es sind auch Menschen und besondere Orte, die diese einmalig schöne Strecke prägen. Und eines der größten Naturschutzprojekte Europas.
Wenn sich ein lang gehegter Reisetraum endlich erfüllt, dann spürt man ihn besonders stark: Den Sog der Fremde, des Unbekannten, des Abenteuers. Einen Kitzel des Neuen, der aus einem ganz normalen Ausflug eine unvergessliche Entdeckungsfahrt machen kann. Und dabei liegt das Gute teilweise so nah, dass man nicht einmal in weite Fernen zu schweifen braucht. So ging es mir, als ich nach Jahren des Träumens im Frühjahr 2023 endlich die Zeit (und das geeignete Wetter) fand, um mit dem Fahrrad entlang des Havelradwegs von Wittenberge nach Berlin zurückzufahren. Was ich fand, war viel mehr als nur Strecke. Sondern eine einzigartige Natur. Und Menschen, die hier, so nah an der Millionenmetropole Berlin, immer noch im Einklang mit ihr leben.
Moment mal, werden Sie als aufmerksamer Leser jetzt vielleicht sagen. Denn natürlich haben Sie recht, wenn Sie anmerken, dass der gesamte Havelradweg länger ist als nur von Wittenberge nach Berlin. Über etwa 380 Kilometer erstreckt er sich von der Havelmündung bei Gnevsdorf bis zur Quelle des Flusses im Mühlsee bei Ankershagen, Müritz. Und nochmal Moment, warum beginnt denn der Havelradweg in Wittenberge, wo dort doch die Elbe entlang mäandert? Nun ja, Gnevsdorf selbst ist nicht ansatzweise vergleichbar an den Öffentlichen Nahverkehr angebunden. Zudem startet die Strecke im nur wenige Kilometer entfernten Wittenberge auch gleich so spektakulär, dass eine Steigerung kaum möglich scheint.
Das storchenreichste Dorf Deutschlands
Denn bereits kurz hinter der Stadt beginnt eine wirklich unglaublich schöne Landschaft. Immer auf einem Deich durchfährt man das Unesco-Biosphären-Reservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg – geprägt von der Elbe, die regelmäßig über ihre Ufer tritt und hier die Wiesen überschwemmt. Zwischen den Erlen und Kopfweiden springen ganze Rudel von Rehen und Hasen hin und her, am Himmel kreisen majestätisch Störche. Hier haben sie sozusagen ihren Hauptstützpunkt, denn das nahe Rühstädt gilt als das storchenreichste Dorf in ganz Deutschland.
Bei einer ersten Rast auf dem Dorfanger fühlt man sich, als sei man in der Zeit zurückgereist. Romantische Backstein-Architektur, auf fast jedem Dach teils mehrere Storchennester, bis auf das Geklapper der Vogelschnäbel der Vormittag fast unwirklich still. Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich mittlerweile schon in Rühstädt war. Die Magie des Frühjahrs jedenfalls, wenn gerade die Storchenjungen geschlüpft sind, ist ein Eindruck, der sich ganz tief ins Herz brennt. Nur ein paar Monate, in denen Rühstädt zum Touristenmagneten wird, dann reisen die Vögel davon, um im Jahr darauf verlässlich wiederzukommen. Schon hier, nach nur etwa 17 Kilometern Strecke, fällt es schwer, überhaupt weiter fahren zu wollen.
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Wo das Bernsteinzimmer verschenkt wurde
Bei Gnevsdorf dann ganz unprätentiös der Beginn der offiziellen Strecke: Von der Elbe spaltet sich eher unauffällig die Havel ab. Riesige Herden von Schafen weiden nahe dem Fluss und verwandeln die Landschaft in ein herrliches Gemälde. Der Gegenwind weht hier mitunter allerdings so heftig, dass man mit dem Fahrrad nur in Schrittgeschwindigkeit vorankommt. Das sind aber auch mehr oder weniger die einzigen Tücken, die Reisende auf dem Havelradweg erwarten können. Steigungen gibt es entlang der gesamten Strecke keine nennenswerten. So verfliegt dann auch der erste Tag in einsamster Natur, auf dem Stück bis zum Ziel Havelberg treffe ich weniger als insgesamt 10 Menschen.
Havelberg ist einer der Orte, die entlang des Weges in einer Art Dornröschenschlaf vor sich hin dämmern. Malerisch am Fluss und teilweise auf Hügeln gelegen, ist die ehemalige Hansestadt heute ein fast schon komatöses Nest. Ihr großes Kapital ist ihre einzigartige Lage am Fluss, die wohl schon ganze Schulen von Landschaftsmalern begeistert haben dürfte. Nichts bis auf ein unscheinbares Schild nahe des Havelberger Doms deutet darauf hin, dass dies ein wahrhaft geschichtsträchtiger Ort ist. Denn im November 1716 schenkte hier Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. dem russischen Zaren Peter I. das legendäre Bernsteinzimmer. Außerdem eine vergoldete Yacht. Ob er damit die Strecke des heutigen Havelradweg entlang schipperte, ist nicht überliefert. In Bronze gegossen, stehen die beiden Monarchen heute noch auf dem Domplatz.
Einmaliges Naturprojekt
Hinter Havelberg führt der Weg dann erstmals parallel zu einer Bundesstraße, und hier beginnt auch ein wahrlich skurriles Stück Strecke. Denn plötzlich verläuft der Havelradweg auf einer Distanz von etwa 80 Kilometern überhaupt nicht mehr entlang oder überhaupt auch nur in Sichtweite der Havel. Dies hat allerdings einen wunderbaren Grund, denn zwischen Gnevsdorf und dem Nest Pritzerbe spielt sich bereits seit Jahren eine der größten Naturschutzmaßnahmen in ganz Europa ab. Hier wird, auf einem fast 90 Kilometer langen Flussabschnitt, die Untere Havel wieder renaturiert. Das Projekt, getragen vom Nabu, ist wirklich einmalig.
Bis 2025, so der Plan, sollen insgesamt 15 trocken gefallene Altarme der Havel wieder zum Fließen gebracht werden. Dazu kommt der Rückbau von Deichen und 71 Deckwerken, also die Renaturierung von zahlreichen Uferböschungen. Das Projektgebiet ist unglaubliche 18.700 Hektar groß, die Kernzone, in der die Maßnahmen stattfinden, immer noch 9000 Hektar. Die Untere Havelniederung ist bereits heute das größte und bedeutsamste Feuchtgebiet im Binnenland Mitteleuropas. Weit über 1000 bedrohte Tier- und Pflanzenarten finden hier einen einmaligen und einmalig schönen Lebensraum.
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Fleischer und alte Fähren
Und auch wenn es nun lange Zeit nicht mehr am Fluss entlang geht, führt die Strecke scheinbar doch mitten durch die lebendige Geschichte des Havellandes. Da ist zum Beispiel die Fleischerei Tetzel in Schollene. Wie eine Oase für Reisende liegt sie entlang des Havelradweg, der ansonsten wahrlich nicht mit gastronomischen Angeboten gesegnet ist. Hier bekommt man einen Herzinfarkt-starken Kaffee genauso wie belegte Brötchen und hausgemachte Buletten, dazu noch ein freundliches Gespräch. Das heißt, wenn die Bedienung Zeit hat. Denn ab 9 Uhr morgens war der Laden bei meinem Besuch bereits brechend voll. Als ein Mann aus dem nahen Wohnheim für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung offenbar nicht zum ersten Mal ohne Geld, aber mit Hunger auftaucht, wollen ihm gleich mehrere Anwesende sein Frühstück spendieren. Wo die Menschen halt noch freundlich sind.
Bei dem kleinen Nest Kützkow dann wieder gelebte Geschichte. Auf einmal scheint der Havelradweg abrupt im Fluss zu verschwinden. Zunächst denke ich ob der starken Regenfälle der vergangenen Wochen an Hochwasser. Doch dann sehe ich die kleine Fähre, die Kützkow mit dem benachbarten Pritzerbe verbindet, und die hier bereits seit dem 14. Jahrhundert in Betrieb ist. Noch heute transportiert sie täglich mehrere hundert Personen und Fahrzeuge, vielleicht auch Ideen und Träume. Das nahe Milow ist dann ein wahres „Shopping-Paradies“ mit einem Supermarkt und sogar einem Ableger des Deutschen Jugendherbergswerks, der in einem alten Herrenhaus untergebracht ist. Der örtliche Bäcker musste aber leider einer bekannten Brötchen-Kette weichen, und so gehen manche Geschichten entlang des Weges auch still und fast unbemerkt zu Ende.
Fischer aus Berufung
Dass man am Havelradweg an einem der gesündesten und artenreichsten Flüsse Deutschlands entlang fährt, merkt man spätestens in dem kleinen Briest. Hier hat Fischer Jörg Mehlhase seinen Laden, in dem auch schon sein berühmter Namensvetter Pilawa Halt gemacht hat. Das Foto des Fernseh-Stars hängt gleich neben der kleinen Theke, in der Mehlhase täglich seinen frischen Fang präsentiert. Das Handwerk lohne sich nicht mehr so wie früher, aber er könne einfach nicht aufhören. Die Fischerei sei kein Beruf, sondern seine Berufung, sozusagen. Dann wird er wieder bei wichtigeren Projekten gebraucht, seine Enkelin möchte spielen. Ich wiederum nehme seinen selbstgemachten Sahne-Heringstopf mit, von dem ich heute noch träume. Ein Stück weiter in Plaue dann sogar noch mehr Tradition, ich habe die Wahl unter gleich mehreren Betrieben für mein Fischbrötchen. Das Unternehmen „Plauer Fisch“ geht gar zurück bis in das Jahr 1650.
Das Tagesziel, Brandenburg an der Havel, ist nach den Örtchen fast so etwas wie die hippe Boomtown entlang des Havelradweg. Eine moderne Promenade am Fluss, veganes Essen, das alles vor historischer Kulisse. Techno-Musik liegt an diesem Abend in der Luft, Berlin und seine Club-Kultur scheinen nur einen Steinwurf entfernt. Hier jedoch, und das ist meine einzige Kritik an der Strecke, verfahre ich mich am Stadtausgang ob unklarer bzw. fehlender Ausschilderung gehörig. Einmal aber wieder auf der richtigen Spur beginnt auf dem nahen Haveldeich das wohl schönste Stück der gesamten Tour.
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Kaffee und Kunst
Nach einer Übernachtung am Wasser, in dem in der Abenddämmerung zahlreiche Nutria planschen, fahre ich am nächsten Morgen frisch gestärkt und bei bestem Sonnenschein dem Reiseziel entgegen. Der Fluss ist jetzt wieder mein ständiger Begleiter und macht dem Namen Havelradweg wirklich alle Ehre. Die Landschaft und kleinen Orte fliegen nur so vorbei, und schon bin ich in der bekannten Inselstadt Werder an der Havel. Wenn Sie die Brücke zur Altstadt überqueren und dann an einer Art Schaufenster mit Räucherfisch vorbeikommen, klingeln Sie unbedingt. Hier gibt es die leckersten Fischbrötchen am Ort zu einem fairen Preis, von einer freundlichen Großmutter stets frisch zubereitet.
Zu erwähnen ist in Werder außerdem der Kaffee Kontor, der Bohnen aus aller Welt in dem tollen Ambiente eines alten Herrenhauses anbietet. Natürlich bekommt man hier auch eine frische Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, die Preise sind allerdings für mein Verständnis generell recht deftig. Über eine alte Allee geht es dann zurück nach Potsdam, mitten durch einen Campingplatz, wo die Parzellen „DDR-Straße“ und ähnlich ostalgisch benannt sind. Brandenburgs Landeshauptstadt begrüßt mit einem beeindruckenden Panorama, denn hier führt der Havelradweg auch entlang des Alten Markt, wo die mächtige Kirche St. Nikolai thront. Direkt gegenüber liegt mit dem Palazzo Barberini eine der wichtigsten Kunstsammlungen Deutschlands, ein Besuch hier ist geradezu Pflicht.
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Eine triumphale Heimkehr
Über die historische Berliner Brücke, auf der im Kalten Krieg Russland und Amerika gefangene Spione austauschten, geht es dann dem Ende der Reise nach Wannsee entgegen. Unterwegs lockt noch einmal die Pfaueninsel zu einem Besuch, auf der bis heute die namensgebenden Tiere leben. Früher eine Art Privatzoo für den preußischen Adel, ist das kleine Eiland über eine Fähre heute für jedermann zugänglich, und eines der beliebtesten Ausflugsziele entlang des Havelradweg. Für mich ist das Ende der Reise besonders schön, denn die Fähre setzt von Wannsee nach Alt-Kladow über, wo ich einen Großteil meines Lebens verbracht habe, und auch heute wieder wohne.
Vor allem wegen des Gutsparks Neu-Kladow und dem Max-Fränkel-Garten ist die Kladower Promenade entlang der Havel ein bei Städtern wie Touristen beliebtes Ausflugsziel. Am Wochenende locken gleich zwei Biergärten und mehrere Restaurants Gäste aus aller Welt zum Verweilen. Für mich ist es nach nur drei Tagen Reise eine triumphale Heimkehr, mit vielen Erinnerungen und noch mehr Hoffnungen. Denn soviel ist klar, so bald wie möglich werde ich das zweite Stück des Havelradweg von Berlin bis an die Müritz fahren. Und diesmal wird es bestimmt nicht mehrere Jahre dauern, bis die Bedingungen endlich passen, ich mache sie einfach passend. Und Sie hören dann wieder von mir. Beziehungsweise lesen.