15. Februar 2021, 11:05 Uhr | Lesezeit: 7 Minuten
Tage-, wochen- oder gar monatelang wandern: für manche eine Horror-Vorstellung, für andere die schönste Art Urlaub zu machen und abzuschalten. Doch worin besteht beim Extremwandern die Herausforderung? Können auch Anfänger auf große Reise gehen? Und warum ist Wandern für manche viel besser als Strandurlaub? TRAVELBOOK hat bei Profis nachgefragt, die um die ganze Welt gewandert sind, Berge erklommen oder gemeinsam mit ihrem Hund an 24-Stunden-Läufen teilgenommen haben.
1700 Kilometer wanderte die US-amerikanische Autorin Cheryl Strayed durch den Westen Amerikas. Sie wanderte, um zu sich selbst zu finden. Und um vergangene Erlebnisse zu verarbeiten. Das war 1995, vor mehr als 20 Jahren, als noch nicht jeder einfach so seine Zelte abbrach, um die Welt zu erkunden. Das Buch, das Strayed über das Extremwandern schrieb, wurde ein Bestseller. Anfang 2015 kam „Der große Trip – Wild“ mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle in die deutschen Kinos.
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Extremwandern heißt der Trend, der eigentlich gar keiner ist. Zu alt ist der Sport „Wandern“, um nach unserem Verständnis als hip zu gelten. Und dennoch sind manche Routen mal mehr oder weniger „in“, darunter – natürlich – der Jakobsweg. Nachdem Hape Kerkeling sein Buch „Ich bin dann mal weg“ veröffentlichte, in dem er über seinen mehr als 600 Kilometer langen Fußmarsch auf dem Pilgerweg berichtete, machten sich plötzlich auch Schüler und Studenten in den Ferien auf den Weg – auch zu sich selbst.
Nicht auf dem Jakobsweg, dafür einmal um die Welt wanderte der US-Amerikaner Andrew Siess. Im Mai 2012 hatte er das Extremwandern in Italien begonnen, durchquerte in drei Jahren 24 Länder und legte insgesamt mehr als 38.000 Kilometer zurück. Extremer geht’s kaum.
Bei Andrew Siess war es eine Wette, die ihn auf die Idee brachte, die Welt zu Fuß zu umrunden, wie er TRAVELBOOK verriet: „Ich wollte sehen, ob es möglich ist, die Welt zu sehen. Als Spaß, als Herausforderung. Ein Mann hat mit mir um einen Kasten Bier gewettet, dass ich es nicht schaffe. Also habe ich es getan.“
Siess‘ treuester Begleiter während des Extremwanderns: seine Geige. „So lange ich sie dabei habe, kann ich mit jedem Menschen auf der Welt kommunizieren – und Geld verdienen“, sagt er. Außerdem hatte er ein Zelt, einen Schlafsack, Kleidung, Essen, Bücher und Wasser im Gepäck. Sein Rucksack wog 15 bis 20 Kilo. Während er ihn anfangs noch auf dem Rücken schleppte, legte er sich unterwegs schließlich einen kleinen Karren zu, auf dem er das Gepäck vor sich herschieben konnte. Seine Weltreise kostete Siess am Ende nur 3500 Euro.
Lesen Sie hier den kompletten Artikel über die Reise von Andrew Siess
Tipps zur Vorbereitung vom Extremwandern
Andrew Siess und Cheryl Strayed gingen ohne Vorbereitung auf ihre lange Wanderung und wussten nicht, was sie erwartet. Doch natürlich ist es empfehlenswert, dafür zu trainieren. „Das Wichtigste ist: Fangen Sie klein an, zum Beispiel mit einer Wanderung im Mittelgebirge, oder übernachten Sie mal in einer Hütte (statt in einem eigenen Zelt)“, erklärt Mathias Hascher, selbst Bergsteiger und Vorstand im Alpenverein des Landes Berlin. So gewöhne man sich langsam an die Strapazen, wachse mit der Tour und bekomme nach und nach ein Gefühl für das Wandern.
Denn wer in der Wildnis unterwegs ist, sei „ganz schnell verloren“, sagt Hascher. „Sie können umknicken, sich ein Bein brechen. Im schlimmsten Fall ist man tot. Damit das nicht passiert, ist es wichtig, gut vorbereitet zu sein und eine gute Ausrüstung zu haben: sprich passende Schuhe und Rucksack“, so Hascher. Er empfiehlt, sich über die Erfahrungen anderer zu informieren und zum Beispiel entsprechende Blogs zu lesen oder sich in Fachgeschäften beraten zu lassen. Bei unseren Kollegen von FITBOOK können Sie schonmal nachlesen, worauf Sie bei Wanderschuhen achten sollten.
Das gehört in jeden Wander-Rucksack
Neben guten Schuhen sollte man bei einer Extrem-Wanderung Brennstoff, Kleidung, ein Zelt und ein Notfall-Kit dabei haben. Hascher: „Bei Luxusgegenständen wie Rasierer, Tablet und Fotoausrüstung muss man sich einfach fragen, ob man es wirklich braucht. Je leichter der Rucksack ist, desto besser.“ Das Gewicht sollte allerdings nicht 20 Kilo übersteigen. Was manche Wanderer laut Hascher unterschätzten, sei die Menge an Proviant, die man braucht, wenn man tagelang in der Wildnis unterwegs sei.
Allein Extremwandern oder in der Gruppe?
Ob man allein oder in einer Gruppe reist, hängt natürlich vom Typ ab und muss letztlich jeder für sich entscheiden. „Es gibt Menschen, die wollen darüber reden. Und andere gehen lieber allein auf einen Selbstfindungstrip“, so Hascher zu TRAVELBOOK. „Wenn man allein reist, bekommt man eine ganz andere Sicht auf sich, die Tour und die Natur. Wichtig ist, dass man die möglichen Gefahren ernst nimmt, denn Extremwandern ist auch eine psychische Herausforderung.“
Für Hascher hat Wandern etwas Meditatives: „Man kann die Ruhe und die Natur genießen, abschalten und sich selbst wahrnehmen. Für den ein oder anderen kann das heilende Kräfte haben. Als Vater gehe ich am liebsten mit meinen Kindern wandern. In der Zeit wachsen wir zusammen, weil wir aufeinander angewiesen sind und es keine Ablenkung gibt. Das gibt mir so viel mehr als ein Strandurlaub, in dem die Kinder spielen und der Papa Zeitung liest.“
Während manche in langen Wanderungen sich selbst suchen, entdecken andere dabei auch ihren sportlichen Ehrgeiz, denn Extremwandern – das kann auch bedeuten, eine besonders lange Strecke in einer besonders kurzen Zeit zurückzulegen, zum Beispiel bei 24-Stunden-Läufen, bei denen viele Teilnehmer eher flott gehen als zu joggen. Dr. Michèl Gleich, Extremläufer und Personal Trainer aus Berlin, hat im Juni 2011 und 2012 an solchen Läufen teilgenommen hat, damals im Alter von 31, beziehungsweise 32 Jahren.
Die erste Strecke führte ihn 90 Kilometer durch den Naturpark Frankenwald in Bayern auf mehr als 2500 Höhenmetern. Dabei immer an seiner Seite: sein Hund Manolo, ein Belgischer Schäferhund. Nach nur 17 Stunden, also sieben Stunden vor der Zeit, die sie maximal brauchen durften, seien sie „erschöpft, aber glücklich ins Ziel“ gekommen, erzählt Gleich.
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Laufen bei Dunkelheit
Ob er gelaufen oder gegangen ist, hat er vom Gelände abhängig gemacht: „Bergauf und flache, lange Strecken bin ich im schnellen Tempo gelaufen, beziehungsweise gejoggt. Bergab bin ich gegangen, das Gepäck hätte mich sonst zu sehr den Berg heruntergezogen. Außerdem liebe ich es, bergauf zu rennen – und Manolo auch.“
Eine der größten mentalen Herausforderungen war für Gleich das Laufen bei Dunkelheit. „Nur wenn man im Kopf stark ist, kann man es schaffen. Vor allem in der Nacht, wenn der Körper – abgesehen von der stundenlangen Anstrengung – müde und erschöpft ist und sich nach Schlaf sehnt, muss man zuerst im Kopf weitermachen. Erst danach laufen die Beine.“
24 Länder, 38.000 Kilometer 25-Jähriger umrundet die Welt – zu Fuß
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Beim Extremwandern nichts dem Zufall überlassen
Auch wenn Gleich davon überzeugt ist, dass jeder so etwas schaffen kann, Vorbereitung ist für ihn das A und O. „Man sollte nichts dem Zufall überlassen. Erst recht nicht, wenn ich meinen Körper in extreme Situationen bringe. Ich stelle mir oft viele Situationen im Kopf vor, spiele diese immer wieder durch. Praktisch ein Training im Kopf, um auf die echten Situationen optimal vorbereitet zu sein.“ Dazu gehört beim Extremlauf auch: zu schauen, wo man Tempo machen kann, wo man etwas trinken oder essen kann.
In den Wochen vor dem Lauf hat Gleich regelmäßig 10- bis 15-Kilometer-Läufe absolviert, in der Woche zuvor ist er mit Manolo täglich sechs bis acht Stunden in den Alpen gewandert. Auch, um sich an die Höhe zu gewöhnen.
„Natürlich gibt es diese Momente, in denen man sich hinterfragt. ’Was mache ich hier gerade?’ Oder ’Wie lange reicht meine Energie noch?’ Aber wenn man kämpft, auch wenn es eigentlich nicht mehr geht, ist man am Ende mental stärker – und diese Erfahrung kann mir kein Strandurlaub im Hotel am Meer geben.“