20. November 2015, 9:22 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Das Skitourengehen boomt – immer mehr Skifahrer wollen fernab der Pisten auf die Berge steigen und durch den Tiefschnee hinabwedeln. Beim Anfängerkurs lernen sie aber vor allem eines: Demut.
Fritz Stadlers Lieblingsgeste ist die alpine Variante der Becker-Faust. Dazu macht der Bergführer ein entschlossenes Gesicht und sagt Sachen wie „Ihr müsst Euch einihaun“ oder „mit mehr Kraft!“. Was Stadler damit meint, kapiert jeder im Kurs schnell: Skitourengehen erfordert vollen Einsatz. Und zwar vor allem beim Runterfahren. „Das Hochsteigen ist nie das Problem“, sagt Stadler, „das klappt nach ein oder zwei Tagen.“
Deshalb steht am ersten Tag des Anfängerkurses im österreichischen Nationalpark Hohe Tauern Tiefschneefahren auf dem Lehrplan. Zaghaft rutschen die zehn Teilnehmer über den Rand der Piste hinaus. Stadler erklärt noch mal kurz, wie es eigentlich geht: kurze Schwünge in der Falllinie, bei jedem Schwung mit Druck belasten, die Knie geschlossen halten und immer in Vorlage bleiben. Dann wedelt er mühelos den Hang hinab und jauchzt dabei. Die Anfänger lernen erstmal, auf wie viele Arten man im Tiefschnee stürzen kann. „Heiteres Figurenwerfen“, wie es Stadler am Abend auf der Rudolfshütte nennt.
Warum boomt das Tourengehen?
Der Salzburger ist seit mehr als 35 Jahren jeden Winter hier oben, in der Alpenvereinshütte auf 2315 Metern. 13 Wochen lang gibt er Kurse im Skitourengehen, die meisten sind ausgebucht. „Die Entwicklung ging immer aufwärts“, sagt Stadler und zieht mit seiner Hand eine Linie nach schräg oben. „Aber in den vergangenen 15 Jahren war sie so“, sagt er und reißt die Hand senkrecht in die Höhe.
Der Boom des Tourengehens ist ein Paradoxon. Da werden in den Skigebieten immer schnellere und bequemere Lifte gebaut. Und die potenziellen Kunden steigen stattdessen lieber wieder selbst auf den Berg, wie nach dem Krieg, als Fritz Stadler das Skifahren auf Holzplanken ohne richtige Bindung lernte. Warum? Sandra Windisch sagt bei der Vorstellungsrunde, sie will „weg von den Menschenmassen, in die Natur“. Radoslaw Bonczyk geht seit drei Jahren mit seiner Frau Marcela Bergsteigen, „jetzt suchen wir was für den Winter“, sagt er. Und Karina Hilbrecht erklärt, dass „im Winter die Kondition immer in den Keller geht“. Das soll jetzt anders werden.
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Hauptsache nicht so steif wie Pinocchio
Dann geht’s los zur ersten Tour. „Nicht steif wie Pinocchio gehen, sondern mit den Hüften nach vorne“, ruft Stadler. Mit gleichmäßigen Schritten gleitet er voran, wir stapfen im Gänsemarsch hinterher. Man hört nichts als das Klacken der Bindungen. Zeit für die nächste Lektion: die Spitzkehre. Mit dieser Technik kann man in steilem Gelände wenden, um in Serpentinen aufzusteigen.
Mittagspause, Wurstsemmel und Verschüttetensuche. Gebückt tapsen wir herum, das piepsende LVS-Gerät dicht über dem Schnee. Ein Pärchen streitet über die Richtung und steht ratlos im Schnee. Man möchte nicht mit ihnen in eine Lawine geraten.
„Du hast keine Chance, dich selbst auszugraben, du kannst nicht mal den kleinen Finger bewegen“, sagt Fritz Stadler am Abend, nach Sauna und Buffet-Völlerei. Er wurde zweimal unter einer Lawine begraben. „Und einmal bin ich Schuss raus gefahren.“ Skibergsteigen bleibt trotz moderner Technik ein Risikosport. Allein in Österreich gebe es durchschnittlich 25 bis 30 Lawinentote pro Winter.
Eine Herausforderung wird die lange Tour zum Abschluss für alle im Kurs. 800 Höhenmeter aufsteigen – und vor allem abfahren! Die Bedingungen sind perfekt. Die Sonne scheint, ein schwacher Wind bläst Schneeschleier in die Luft. Die Stille und die Aussicht sind überwältigend. Ringsum falten sich die weißen Gipfel der Hohen Tauern aus, über allen der Großglockner und der Großvenediger. Eine Gämse hüpft über die Felsen. Als wir schließlich auf der Granatscharte ankommen, sehen wir in der Ferne, Bergkamm hinter Bergkamm, die Dolomiten leuchten. Spätestens jetzt versteht jeder im Kurs, warum so viele dem Zauber des Tourengehens erliegen.