30. Juni 2015, 9:58 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten
Wer am Zugspitz-Ultratrail teilnimmt, der muss nicht bei Sinnen sein, so der erste Gedanke, wenn man sich vor Augen hält, welche Strapazen auf die Läufer warten: 100 Kilometer Strecke, rund 5000 Höhenmeter – und das bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. TRAVELBOOK-Autor Michael Adomeit war dabei und berichtet von seinen Erfahrungen beim größten Trailrun-Event Deutschlands, das am 20. und 21. Juni zum fünften Mal stattfand.
Es ist Mitternacht, als ich die achte Verpflegungsstation erreiche. 77 Kilometer bin ich in den letzten 17 Stunden gelaufen. Es regnet seit Stunden in Strömen. Ich bin nass und erschöpft, möchte hinschmeißen, aufhören, die durchtränkten Schuhe ausziehen, mich vom Shuttlebus zurück ins Tal bringen lassen. Der schwierigste Teil der Strecke liegt noch vor mir – und das große Finale des Zugspitz-Ultratrails. Ich zittere vor Kälte. Ich muss eine Entscheidung treffen – jetzt.
29 Stunden zuvor sitze ich mit Familie, Freunden und dem Laufteam bei der Pastaparty in Grainau nahe des romantisch-bayerischen Ferienziels Garmisch-Partenkirchen am Rand der deutschen Alpen. Nach dem Essen begrüßen die Veranstalter die Teilnehmer offiziell. Flaggenträger bringen die Fahnen der 50 teilnehmenden Nationen durch das Festzelt auf die Bühne während die Moderatoren die Ländernamen verlesen. Dann folgt das Strecken-Briefing: Beschaffenheit, Gefahren, Pflichtausrüstung, ganz am Ende dann die mit Spannung erwartete Wettervorhersage – die nichts Gutes verheißt. Regen, Graupel und Temperaturen zwischen zwei Grad Celsius in den alpinen Höhenlagen um 2.000 Höhenmeter und elf Grad Celsius in den Tälern. „‚Saukalt‘ is bavarian – and means really really cold!“ Das sind die Worte des Renndirektors. Zusätzlich zur Ultratrail-Distanz von 100 Kilometern wird also auch das Wetter zu einer großen Herausforderung.
Samstagmorgen, 5:15 Uhr
Der Wecker klingelt. Nach einer unruhigen Nacht verlasse ich das Bett und schleiche in die Küche, um die anderen nicht zu wecken. Noch zwei Stunden bis zum Start. Mit meinem Laufpartner Marcus frühstücke ich – Spaghetti mit Tomatensoße. Wir müssen uns das Essen um diese Uhrzeit reinquälen, aber wir werden die Energie später brauchen. Wir packen unsere Trailrucksäcke und laufen den Kilometer von der Ferienwohnung bis zum Start- und Zielbereich durch das noch verschlafene Grainau.
6:30 Uhr
Der Bereich für die Startaufstellung wird geöffnet. Die ersten der 600 gemeldeten Läufer strömen Richtung Check-in. Bevor man zur Startaufstellung durchgehen darf, wird die Ausrüstung überprüft. Fehlen wichtige Ausrüstungsgegenstände wie Medi-Kit, Stirnlampe oder Handschuhe, wird man nicht zum Start zugelassen. Ausnahmen gibt es keine. Wir passieren den Check-in ohne Probleme.
7:00 Uhr
Das letzte Wetterbriefing ertönt aus den Lautsprechern. Es wird den ganzen Tag regnerisch und bewölkt sein. Dennoch sollen wir auf der originalen statt auf der Schlechtwetterroute laufen. In der Nacht ist weniger Schnee gefallen als befürchtet. Das Streckenteam hat die hochalpinen Passagen über 2.000 Höhenmetern freigegeben. Lange Arm- und Beinbekleidung sind allerdings Pflicht. Die Gefahr der Unterkühlung bei erschöpften Läufern ist zu groß.
7:14 Uhr
Eine Minute bis zum Start. Noch stehen wir trocken unter einem riesigen Zelt. 30 Sekunden. Dann fällt der Startschuss. Wir traben los. In der ersten Kurve stehen unsere Freunde, feuern uns an. Euphorie. Dann schaltet der Kopf auf Tunnelblick. Laufmodus. Wir folgen dem Führungsfahrzeug durch Grainau in Richtung Hammersbach, danach ist das Rennen freigegeben und der erste Aufstieg beginnt. Nur nicht zu schnell angehen – es wird ein langer Tag. Ich habe Mühe, den richtigen Rhythmus zu finden. Das Adrenalin treibt den Puls zu weit in die Höhe. Der Regen tut sein Übriges. Mehrere Kilometer geht es durch den Wald bergauf bis zur ersten Verpflegungsstation an der Eibseealm auf 1.000 Metern kurz vor der deutsch-österreichischen Grenze. Auf dem Weg dahin passieren wir die erste Kilometermarke: „90 km to go“. Sehr witzig. Dennoch: Es läuft. Wir sind sogar etwas schneller als gedacht.
Auf der Strecke erreicht uns die Info, dass wir nun doch die Alternativroute laufen werden. Ich bin froh, nicht schweiß- und regennass in die kalten Höhenlagen auf 2.200 Metern aufsteigen zu müssen. Die Gefahr der Unterkühlung ist doch sehr groß. Man muss ständig in Bewegung bleiben, um nicht auszukühlen.
15:43 Uhr
Wir erreichen den höchsten Punkt des Rennens: das Scharnitzjoch auf 2.048 Metern. Ein zugiger, verschneiter Übergang zwischen zwei Tälern. Von Aussicht kann man bei dieser Wetterlage nicht sprechen. Wir machen nur kurz ein paar Fotos und beginnen den langen Abstieg zur Verpflegungsstation 5 am Hubertushof. Halbzeit – bei 56 Kilometern.
17:13 Uhr
Beim Einlaufen in die Verpflegungsstation sehen wir zum ersten Mal unsere Freunde. Endlich. Nicht nur die Nahrung, sondern vor allem auch die mentale Unterstützung gibt Kraft für die nächsten Kilometer. Ich fühle mich sehr gut, habe keinerlei Beschwerden, freue mich aber, die nassen Sachen hier gegen trockene tauschen zu können. Ich wechsle mein Laufshirt und meine Schuhe. Bei langen Läufen lässt nach einiger Zeit die Dämpfung der Schuhe nach und man spürt jeden noch so kleinen Stein auf dem Weg. Mit neuen Schuhen, trockener Kleidung, aufgefüllten Energiegel-Vorräten und einem vollen Bauch verlassen wir nach knapp 30 Minuten die Verpflegungsstation. Es regnet weiter in Strömen.
Die nächsten 20 Streckenkilometer verlaufen ohne große Höhenunterschiede. Wir kommen gut voran. Für einen kurzen Augenblick scheint sogar die Sonne zwischen den Wolken hindurch. Unser Plan, nach weniger als 24 Stunden in Grainau ins Ziel zu laufen, könnte aufgehen.
20:26 Uhr
13 Stunden sind wir mittlerweile unterwegs. Ich merke die Anstrengung mittlerweile deutlich in den Beinen. An Verpflegungsstation Nummer 7 muss ich mich zum Essen zwingen: Tomatensuppe mit Nudeln, ein paar Löffel warmer Haferbrei – mein Körper kann das Zeug nicht mehr sehen, aber ohne Energiezufuhr werde ich einbrechen. Nicht nachdenken. Es geht weiter.
Langsam bricht die Dunkelheit herein. Ich tausche meine Schirmmütze gegen eine Wollmütze und setze die Stirnlampe auf. Das Laufen in der Nacht hat seinen eigenen Reiz. Im Schein des Lichtkegels steigt die Konzentration auf jeden einzelnen Schritt. Der Abstieg zur Verpflegungsstation 8 ist sehr steil und rutschig. Der Weg führt über Wurzeln und loses Gestein. Zeitweise gleicht er einem kleinen Fluss, da das Regenwasser sich hier sammelt und talwärts fließt. Spätestens jetzt sind auch die besten, vermeintlich wasserdichten Schuhe nass. Meinen Laufkollegen habe ich aus den Augen verloren. Er ist irgendwo in der Dunkelheit vor mir. Ich laufe schneller, um ihn wieder einzuholen, taste die vorauslaufenden Silhouetten im Schein meiner Kopflampe ab. Ich kann ihn nicht erkennen.
23:55 Uhr
Ich erreiche Verpflegungsstation 8 an der Partnachalm oberhalb des Naturdenkmals Partnachklamm. Vor mir liegt der letzte große Anstieg – und der schwierigste Teil der Strecke. Ich bin allein und erschöpft, habe schon 77 Kilometer in den Beinen, dazu die Kälte, die Feuchtigkeit. Ich setze mich zum ersten Mal auf einen Stuhl unter einem Schirm. Neben mir raschelt es. Es ist eine Rettungsdecke, in die sich ein zitternder Läufer gehüllt hat. Ein Mann von der Bergrettung erklärt ihm, dass in wenigen Minuten der Shuttlebus in Richtung Grainau fährt und dass er die Rennleitung bereits über sein Ausscheiden informiert hat. Die Kälte kriecht durch meine Kleidung. Es sind noch acht Kilometer durch steiles und anspruchsvolles Gelände bergauf bis auf 1.610 Meter, dann der schwierige Abstieg von 1.000 Höhenmetern bis nach Grainau. 13 Kilometer insgesamt. Das Wort „Shuttlebus“ hallt in meinen Ohren wie ein Ruf. So weit bin ich schon gekommen. Weiterlaufen! Shuttlebus? Der Gedanke an mein warmes Bett wird immer mächtiger. Ich beginne vor Kälte zu zittern. Nein: Ich habe noch nie bei einen Wettkampf aufgegeben. Weiterlaufen! Ein letztes Mal fülle ich meine Getränkevorräte auf, trinke heißen Tee.
Das Läuferfeld hat sich mittlerweile weit auseinandergezogen. Zusammen mit einem anderen Läufer beschließe ich deshalb, diesen letzten anspruchsvollen Streckenabschnitt gemeinsam anzugehen. Das Risiko, sich in der Dunkelheit zu verletzen und nicht gefunden zu werden, ist zu groß. Langsam und stetig steigen wir auf. Die Höhenmeter ziehen sich endlos in die Länge. Der Weg ist mittlerweile sehr matschig und ausgetreten – man findet kaum Halt, rutscht immer wieder ab. Zwei weitere Läufer sind zu uns gestoßen. Immer wieder schaue ich auf meine GPS-Uhr, verkünde die verbleibenden Höhenmeter. Irgendwann ist der letzte Anstieg endlich geschafft. Jetzt geht es bergab – fünf Kilometer.
Sonntagmorgen, 2:08 Uhr
Ich sitze in der letzten Verpflegungsstation in einem beheizten Zelt. Die warme Luft des Heizstrahlers tut gut. Ich gebe die voraussichtliche Ankunftszeit in mein Handy ein, um Familie und Freunde zu informieren. Die Nachricht geht nicht raus. Verdammt. Was, wenn niemand unten auf mich wartet? Ich verstaue mein Handy wieder im Rucksack und beginne den Abstieg in der Hoffnung, dass mich irgendjemand mitten in der Nacht empfangen wird. 90 Minuten später erreiche ich Hammersbach. Euphorie macht sich breit. Vor ein paar Stunden stand ich schon mit einem Bein im Shuttlebus, war kurz davor aufzugeben – und jetzt ist es fast geschafft. Den letzten Kilometer laufe ich in Rekordzeit.
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4:29 Uhr
Zieleinlauf! Ultratrail-Finisher! Geschafft! Ich durchlaufe den Zielbogen, im Gegenlicht der Scheinwerfer erkenne ich meine Familie – sie haben tatsächlich zwei Stunden in der Nacht auf mich gewartet, um mich zu empfangen. Ich bin glücklich und erschöpft. Nach über 21 Stunden erreiche ich das Ziel des Zugspitz-Ultratrails – zwölf Stunden später als der Sieger des Rennens. In der einsetzenden Morgendämmerung machen wir uns auf den Heimweg. Kaum ein Moment in meinem Leben, in dem ich mich mehr auf eine warme Dusche und mein Bett gefreut habe.