27. Oktober 2022, 8:29 Uhr | Lesezeit: 6 Minuten
Kanada ist für viele Menschen weltweit ein Sehnsuchtsort. Tiefe Wälder, unberührte Weiten, spektakuläre Seen und Berge. Auch im Norden von British Columbia gibt es diese traumhafte Natur. Wer dorthin reist, wird an irgendeinem Punkt mit Sicherheit auch auf dem Highway 16 fahren, einer der größten und längsten Straßen in der Provinz. Doch auch die mit der wohl traurigsten Geschichte des Landes. Denn entlang einer 700 Kilometer langen Strecke des Highway 16 wurden immer wieder Frauen entführt und ermordet. Die tragische Geschichte des „Highway of Tears“.
British Columbia, die westlichste Provinz von Kanada, ist vor allem für die Metropole Vancouver im Süden bekannt. Während das Ballungsgebiet dort dicht besiedelt ist, findet man im Norden noch auf weiten Strecken nahezu unberührte Natur. Dort liegen die Städte Prince George und Prince Rupert. Prince George liegt im Landesinneren und ist mit etwas mehr als 70.000 Einwohner die mit Abstand größte Stadt in der Region, Prince Rupert, auch „City of Rainbows“ genannt, befindet sich an der Küste und beheimatet 12.000 Menschen. Verbunden sind beide Städte durch den Highway 16, auch bekannt als „Highway of Tears“.
Mehr Details zum Highway of Tears finden Sie hier:
Wer heute auf dem Highway of Tears fährt, sieht sofort, dass hier Gefahr lauert. Vielerorts stehen Schilder, die besagen: „Girls, fahrt nicht bei Fremden auf dem ‚Highway of Tears‘ mit. Es läuft ein Mörder frei herum.“ Schilder, die hier aus gutem Grund stehen. Denn laut der offiziellen Liste der Royal Canadian Mounted Police sind hier bereits 18 Frauen verschwunden oder ermordet worden. Laut Schätzungen der Indigenen-Vertretung der First Nations (damit werden fast alle indigenen Völker in Kanada bezeichnet) handelt es sich sogar um deutlich über 40 Fälle.
Mörder, die immer wieder zu Tätern werden
Eine von ihnen ist Marnie Blanchard. Sie war 18 Jahre alt, als sie um 2 Uhr am 22. November 1989 beim Verlassen des Rock Pit Cabaret in Prince George zum letzten Mal gesehen wurde, als sie in einen grauen Toyota-Pickup mit weißem Verdeck stieg. Eine Fahrt, die sie nicht überlebte. Ihre Überreste wurden am 11. Dezember von entdeckt – ein Zufall, denn Skilangläufer stießen auf die Leiche, die bereits von Tieren zerfleischt worden war. Marnie Blanchard konnte nur durch Zahn- und Röntgenaufnahmen identifiziert werden.
Dreieinhalb Jahre später verschwand ein weiteres Mädchen, Therese Umphrey, am Valentinstag 1993. Man fand sie entlang des Highway 16, etwa 50 Kilometer von Prince George entfernt. Sie war nackt und war erwürgt worden. Als Täter machte man einen Mann namens Brian Peter Arp aus.
Arp war bereits im Juli 1990 wegen des Mordes an Marnie Blanchard verhaftet worden. Allerdings konnte man seine Schuld nicht komplett nachweisen – und es wurde wieder freigelassen. Erst nach dem Mord an Therese Umphrey konnte er dank neuerer DNA-Technologie verurteilt werden. Brian Peter Arp bekam für den Mord an beiden Frauen eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. Vor drei Jahren stellte er einen Antrag auf vorzeitige Entlassung auf Bewährung, der aber von einem Gericht abgelehnt wurde.
Die Hotel-Fälle von Jerry Smaaslet
Auch der Mörder von Donna Mae Charlie war ein Serientäter. 1990 checkte die damals 22-jährige Charlie mit einem Mann zusammen namens Jerry Smaaslet, damals 30 Jahre alt, in das Sportsman’s Motel ein. Doch Charlie würde es nie wieder verlassen. Als der Motelbesitzer, Richard Hunter, das Zimmer am Samstag nach ihrem Check-in betrat, hat er nach eigenen Angaben einen Trümmerhaufen gefunden, die Wände seien mit Blut beschmiert gewesen. Dennoch hat man zunächst nicht weiter ermittelt – bis man am 17. April 1991 eine kopflose Leiche fand. Sie war in der Nähe des Motels auf einem Spielplatz begraben worden. Es handelte sich um Donna Mae Charlie.
Jerry Smaaslet wurde anschließend zwar verhaftet, jedoch zunächst nicht wegen Mordes verurteilt. Erst, nachdem Smaaslet wieder eine Frau in einem Hotel gefangen hielt und bedrohte, wurde er verurteilt. Lebenslang, wegen besonderer Gefahr für die Öffentlichkeit. Doch es sollte trotzdem weitere Morde und Entführungen auf dem „Highway of Tears geben“.
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Viele Fälle entlang des „Highway of Tears“ sind nicht aufgeklärt
Der jüngste Fall geschah 2011. Damals verschwand die junge Kanadierin Maddy Scott bei einem Campingausflug. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war sie 20 Jahre alt und lebte in dem kleinen Ort Vanderhoof. Bei einem Ausflug mit Freunden zu einem nahegelegenen See, dem Hogsback Lake, blieb sie alleine zurück. Als am nächsten Morgen eine Freundin zum Campingplatz zurückkehrte, war Maddy verschwunden – wie auch ihr Handy und ihr Autoschlüssel. Heute geht die kanadische Polizei von einem Gewaltverbrechen aus.
Ein weiteres Opfer: Alberta Williams. Die 24-Jährige gehörte zu der First Nation Gitanyow-Band aus British Columbia. Sie und ihre Schwester beschlossen im Sommer 1989 aus Vancouver wegzuziehen und arbeiteten beide in einer Fabrik in Prince Rupert. Am 25. August 1989, ihrem letzten Wochenende dort, beschlossen sie zu feiern. Sie gingen mit einer Gruppe von Leuten, die in dem Sommer in der gleichen Fabrik gearbeitet hatten, in eine Kneipe – doch hier sah Claudia Williams ihre Schwester zum letzten Mal. Am 25. September 1989 wurde Albertas Leiche 37 Kilometer östlich von Prince Rupert in der Nähe der Tyee Overpass gefunden. Die Ermittler sagten damals, dass sie sexuell missbraucht und erwürgt wurde. Ein Verdächtiger, der nach Aussagen von Claudia ihre Schwester den Sommer über belästigt hatte, wurde nie verhaftet. Claudia habe zwar nach eigenen Aussagen alle Informationen und auch den Namen des Mannes an die Polizei weitergegeben, doch es kam nie zu einer Verhandlung.
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Warum gibt es ausgerechnet hier so viele Verbrechen an Frauen?
Claudia Williams sagt deswegen heute, dass die Polizei mit Absicht schlecht ermittelte. „Für sie spielt es keine Rolle. Solange man zu den First Nations gehört, spielt es keine Rolle“, sagte sie in einer Dokumentation des Magazins „Vice“. Tatsächlich gibt es in Kanada ein enormes Problem mit Verbrechen an indigenen Frauen, und auch die mangelhafte Aufklärung wird seit vielen Jahren kritisiert. Bei einigen Fällen entlang des Highway of Tears, die aufgeklärt werden konnten, gehen Angehöre der First Nations davon aus, dass nur so detailliert ermittelt wurde, weil in diesen Fällen auch weiße Frauen zu den Opfern gehörten.
Hinzu kommt, dass die Regionen entlang des Highway 16 als strukturschwach gelten, Gewalt und Armut sind allgegenwärtig. Viele, vor allem indigene Frauen, sind noch heute dazu gezwungen, per Anhalter zu fahren, wenn sie in andere Orte reisen wollen. Öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum. So steigt das Risiko, einem Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen, weiter. Die besondere Natur in der Region tut ihr übriges: Wilde Tiere machen sich schnell an menschlichen Überresten zu schaffen, ein weicher, nährstoffreicher Boden sorgt dafür, dass Leichen besonders schnell verrotten. Auch deswegen können viele Fälle oft nicht mehr aufgeklärt werden. Und so bleibt der „Highway of Tears“ eine Gefahr, für alle Frauen, die hier alleine unterwegs sind – und die wohl traurigste Straße Kanadas.