9. Oktober 2020, 15:18 Uhr | Lesezeit: 4 Minuten
Unsere TRAVELBOOK-Praktikantin ist süchtig. Süchtig nach Reisen. Sie erzählt, wie es ihr auf Entzug geht und warum sie sich so fühlt, als würde sie ihre besten Jahre verschwenden.
Ich bin müde. Müde davon, mich so zu fühlen, als würde ich in einem Käfig festgehalten werden. Zugegeben, wohl der coolste Käfig der Welt – Berlin. Seit zwei Jahren wohne ich hier und habe nach Anfangsschwierigkeiten meine Liebe zu der Stadt gefunden. Ich lebe gerne in Berlin, habe hier gute Freunde und einen Partner. Langsam reicht es mir aber trotzdem. Und ich habe Angst: vor einem Winter ohne Reisen.
Nicht zufällig schreibe ich für TRAVELBOOK. Ich bin ständig unterwegs und nutze jede freie Minute, um neue Orte zu entdecken. Das Reisen befriedigt meine Neugierde und gibt mir ein Freiheitsgefühl, ohne das ich wohl verrückt werden würde. Und besonders im Winter in Berlin ist dieses „Nicht verrückt werden“ durchaus eine Herausforderung. In den grauen Monaten entfliehe ich der Stadt üblicherweise so oft wie möglich und besuche Freunde in Göteborg, London und Wien oder verbringe Stunden im Flixbus, um ein Wochenende in Warschau zu verbringen. Kurz: ich bin ständig unterwegs und fühle mich nur so richtig frei.
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Ein Winter ohne Reisen? Unvorstellbar!
Und genau deshalb habe ich jetzt Angst. Der Winter in Berlin ist hart – das kann wohl jeder, der hier lebt, bestätigen. Was passiert, wenn mir nun das genommen wird, was mich diese kalten Monate überstehen lässt? Als es im Frühling schon einmal den „Lockdown“ gab, war es für mich nicht so schlimm wie vorher befürchtet. Ich habe viel Zeit auf dem Balkon und mit Büchern verbracht und habe Reisen für die Zukunft geplant. Doch aktuell ergibt für mich nicht einmal das einen Sinn. Zum ersten Mal in meinem Leben gibt es jetzt keinen Urlaub, auf den ich mich freuen kann, keine Destination, über die ich mich informieren könnte. Und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich jetzt, anders als im Frühling, oft tagelang nur grau. Während mich im Frühling die Aussicht auf warme Sommertage am See motiviert hat, weiß ich jetzt nicht mehr, was mich in dem Berliner Grau vor Winterdepressionen retten soll.
Ich habe Verständnis für die Corona-Maßnahmen und weiß, dass man das Virus nicht unterschätzen darf. Es ist dramatisch, dass Leute schwer an Covid-19 erkranken und sterben. Mein Wunsch zu reisen wirkt dagegen ziemlich privilegiert und frech. Mir ist das bewusst, aber trotzdem mindert es meine Angst vor den nächsten tristen Monaten und einem Winter ohne Reisen nicht. Die Urlaubstage, die ich noch auf meinem Konto habe, werden immer weiter nach hinten verschoben und ich immer unruhiger. Das verlängerte Wochenende in München zum Wandern oder der Städtetrip nach Hamburg sind erst mal bis auf unbestimmte Zeit verschoben.
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Wie das Süßigkeitenregal, während man Diät macht
Vor einem Jahr habe ich mich dazu entschieden, diesen Dezember freizunehmen und in Südostasien zu verbringen. Als Student kann man das einfach so machen, steht man erst im Berufsleben dürfte so etwas schwieriger sein. Doch nun sieht es ganz so aus, als würde der letzte Monat in diesem Jahr ziemlich deprimierend für mich werden. Und ja, es gibt weitaus schlimmere Probleme in Zusammenhang mit Covid-19. Aber ich bin Berlin-müde und ratlos. Ich brauche etwas, worauf ich mich freuen kann und muss einfach mal raus.
Blättere ich meine Reisebildbände durch, kommt aktuell ein ganz anderes Gefühl auf als „früher“. Hat mich vor Corona ein unbekanntes Ziel begeistert, wusste ich, dass ich dahin konnte, wenn ich es wirklich wollte. Jetzt fühlen sich diese Bildbände an wie das Süßigkeitenregal im Supermarkt, während man eine Diät macht. Lieber nicht zu genau hinsehen, lieber in nichts verlieben.
Meine Liste an Destinationen, die ich nach der Corona-Krise besuchen will, ist lang. Mein Studium und die damit verbundene Freiheit, frei über meine Zeit verfügen zu können, nicht mehr. Ich fürchte, diese freien Jahre in meinem Leben ziehen nun ungenutzt an mir vorbei.