Von Nioclás Seeliger
Die Stille der Antarktis dröhnt in mir nach. Wer einmal am eisigen Ende der Welt war und genau hineingehört hat, ist ihr für immer verfallen. Wenn ich jetzt auf Fotos blicke, leuchtet das knallige Türkis der Eisberge, als stünde ich wieder an Bord der Bark Europa und würde live daran vorbeisegeln. Sehe ich die Gruppen kuschelnder Pinguine, steigt auch gleich der eindrückliche Gestank ihres Guanos in die Nase.
Nichts aber ist eindringlicher als die weiße Stille!
Ich war in der Antarktis. Sie ließ mich nicht los! Immer wieder schaute ich mir die Fotos an. Und ich versuchte, die Erfahrungen, die ich an Bord des historischen Segelschiffes gemacht hatte, aufzuschreiben. Inzwischen ist daraus ein Buch geworden: „Eis in den Segeln“ (DplusA-Verlag). Ein Auszug:
Eisschollen groß wie Handballfelder
Das Weiß der umliegenden Gipfel spiegelt sich im unbewegten Wasser. Die Schatten unserer drei Masten fallen auf müde vorbeitreibende Eisberge. Sie wirken wie gefrorene Skulpturen. Als hätten sich hier Ernst Barlach und Salvador Dalí im Drogenrausch eine offene Galerie gestaltet. Das Meer an ihrem unteren Rand schimmert karibisch türkis. Mit dem Unterschied, dass die Wassertemperatur hier 1,6 Grad minus beträgt. Kein Geräusch, nirgends! Wir haben den südlichsten Punkt dieser Reise erreicht. Tief im Eis. Und sind doch noch etliche Meilen vom südlichen Polarkreis entfernt. Die Luft ist klar und mit nur einem Grad minus fast antarktisch heiß. Zwei Buckelwale recken neugierig ihre Köpfe. Begleiten das Schiff eine halbe Stunde lang. Tauchen immer wieder unter dem Rumpf der Bark Europa durch. Inspizieren alles ober- und unterhalb der Wasserlinie. Als wären die beiden eine tierische Verkehrskontrolle.
Ihre hellen Brustflossen leuchten im kristallklaren Wasser. In Landschildkröten-Zeitlupe bewegt sich eine Eisscholle von der Größe eines Handballfelds an uns vorbei. Auf ihr dösen entspannt sieben Robben. Meine Wahrnehmung ist total. Nichts lenkt ab. Keine Angst, überhaupt kein negatives Gefühl. Vom Meeresspiegel aus gesehen erreichen die Gipfel von Mt. Peary und Mt. Shackleton neben uns himalayische Ausmaße. Dabei sind es nicht mal Zweitausender.
Es ist jetzt über eine Woche her, dass ich diesen fremden Kontinent erstmals vom Vormast der Bark Europa aus gerochen habe. Inzwischen hat er mich komplett gefangen. Mit all seinen Extremen. Dem explodierenden Weiß. Seiner zutraulichen Tierwelt. Der Windstille. Und auch den kalten Stürmen mit ihrem Nieselgrau.
Das Los der Wetterlotterie ist ein Stimmungsvolltreffer. Und zwar genau, weil die Sonne nicht scheint. Es ist ein dunkler, windiger Morgen, der uns vor wenigen Tagen Richtung Deception Island brachte. Und nichts hat dieser trostlose Ort – an dem Tausende Wale zerschnitten, zerhackt und später zu Öl verarbeitet wurden – weniger verdient als Sonne.
(…) Wir segeln mit sechs Knoten durch die Bransfield-Straße. Seeleute nennen sie auch Mini-Drake. Ich lerne gerade, warum. Der kleine Südpolarsturm schickt Böen mit Windstärke 9 aus Westsüdwest. Neben uns werden Eishaufen in Autogröße von den Wellen hin und her geschleudert. Frostige Gischt fliegt meterhoch. Dem Schnee von oben folgt Hagel. Die Kristalle brennen in den Augen.
Der Kapitän steht stoisch auf der Brücke. Plötzlich aber kommt Bewegung in den Mann und die Ansage: „Segel bergen.“ Da ist keine Hektik. Keine Unsicherheit. Nur kühle Analyse. Ich leide jedenfalls mit denen, die jetzt bei gefühlten 20 Grad minus aufentern und ohne Handschuhe das Tuch an den Rahen festzurren müssen. Ihre Hände sind nach wenige Minuten taub.
Auch interessant: Eiswüste Antarktis – der letzte unberührte Ort der Welt?
Ich habe Pause, halte mich stattdessen an einem heißen Tee fest. Dass Klaas die Europa jetzt auf den verlässlicheren Maschinenantrieb umschalten lässt, hat einen gefürchteten Grund mit dem Namen: Neptune’s Bellows (Neptuns Blasebalg). Es ist die extrem enge Einfahrt zu Deception Island. Für segelnde Forscher, für Walfänger war dieses Eiland oft rettender Hafen. Davor aber stand und steht seemannschaftliche Feinmotorik. Die Vulkan-Caldera, nach Südwesten aufgebrochen wie ein Ohrring, mit den bis zu 500 Meter hohen Berghängen ist einer der geschütztesten Häfen der Welt. Schiff muss eben nur hineinkommen. Und hoffen, dass der Vulkan nicht doch wieder ausbricht. Das geschah zuletzt schließlich erst 1970.
Reise zum schwarzen Lavasand
Die Einfahrt zum Kratersee ist bei Sturm eine Herausforderung. Denn Neptune’s Bellows ist nur wenige Hundert Meter breit. Und zwischen den Felsmauern rechts und links, versteckt nur einen Meter unter der Wasseroberfläche, wartet Ravens Rock darauf, den Schiffen die Rümpfe aufreißen zu können. Ganz egal, ob aus Plastik, Stahl oder Holz.
(…) Fast zwei Stunden dauert es, die Bark unbeschädigt durch das Inseltor zu bringen. Es gelingt mit der Maschine. Mir fehlt tatsächlich die Vorstellungskraft, wie dieses Manöver einst unter Segeln funktioniert haben soll.
Drinnen ist Deception trostlose Sicherheit. Der schwarze Lavasand dunkelt das Grau des Tages noch weiter ab. Wir spazieren durch die Reste einer norwegischen Walfangstation. Bis 1931 verübten hier bis zu 170 Menschen ihr blutiges Handwerk. Verarbeiteten zehn Fabrikschiffe die mächtigen Könige der Meere zu Öl. Verwitternde Holzhütten sind geblieben, modernde Boote. Über denen Skuas, große Raubmöwen, jagen. Dazu die rostroten Tanks für Diesel und Walöl. (…) Auf Deception Island stand die südlichste Trankocherei der Welt. Heute ist sie Heimat für Wissenschaftler, Kreuzfahrttouristen baden in ihren heißen Quellen.
Auch interessant: Abenteuer Antarktis – wie läuft eine Reise zum Südpol?
In der Abenddämmerung ruht gerade eine Robbe neben den hölzernen Resten menschlicher Zivilisation. Einige Eselspinguine watscheln vorbei. Das Barometer zeigt nur noch 974 Hektopascal. In unseren Breiten würde das ein Orkantief mit heftigen Winden anzeigen. Für uns hier unten heißt es lediglich: Ein Tiefdruckgebiet ist im Anmarsch. Unser Schiff ist mit zwei Ankern gesichert.
Am nächsten Morgen wird aus Grau endlich Weiß. Tiefer und tiefer geht es in die geheimnisvolle Welt. Immer weniger Felsen. Mehr Eisberge. Und immer öfter findet sich auf den Seekarten der Begriff unsurveyed (unvermessen). Tatsächlich bewegen wir uns in einem Labyrinth aus Passagen und Wasserstraßen. Voller Eis. Für Kapitän Klaas ist das kein Problem: „Im Jahr 2000 segelte ich zum ersten Mal in die Antarktis. Hier hast du drei Jahreszeiten an einem Tag. Das Wetter ändert sich so schnell und damit die Bedingungen im Eis. Dieser Kontinent ist etwas Besonderes und schwer zu erreichen. Dazu die Atmosphäre. Unser Schiff sieht aus wie die Discovery vor über 100 Jahren. Allerdings innen mit deutlich mehr Komfort.“
Die Bransfield-Straße ist im Sommer so etwas wie ein großer Futtertrog. Robben und Pinguine schlagen sich die Bäuche voll. Buckelwale toben an der Wasseroberfläche und feiern Krill-Festspiele. Die kleinen Krebstierchen schwimmen zu Tonnen im eiskalten Wasser, sind ein Festmahl nicht nur für die Bartenwale. Krill ist das Lebenselixier der Antarktis. Ein kurzer Landgang auf Livingston Island. Es brüllen die gigantischen Seeelefanten. Was für ein Leben! Liegen, Liegen. Magenwinde freilassen. Schlafen. Gelegentlich bewegen sie ihre Masse ins eiskalte Wasser, um zu fressen. Und wenn die Fettspeicher gefüllt sind, wird es Zeit, um sich einmal im Jahr mit anderen Seeelefantenmackern zu raufen und anschließend auch noch Sex mit den Elefantinnen zu haben.
Okay, es ist ja alles auch nicht so einfach, wenn du bis zu fünf Meter lang wirst und doppelt so viel wiegst wie ein Nilpferd.
Antarktis – wo kein Wind ist, ist Eis
Draußen tobt der angekündigte Sturm, der sich in nur wenigen Minuten aufgebaut und die bis dahin müde dahintreibenden Eisberge geweckt hat. (…)
„Es ist schön, mitten durch einen Orkan zu segeln und sich gottähnlich zu fühlen“, meinte der Abenteuerschriftsteller Jack London dazu. Wir freuen uns, dass wir die Feldnadeln von Kap Renard fast erreicht haben. Sie versprechen dem Kundigen Schutz. Eine filmreife Einfahrt. Aber hier droht die nächste Gefahr: Wo kein Wind ist, da ist Eis.
Es knirscht, kratzt und knallt unter Deck. Ich mache Pause in meiner Sechs-Personen-Kammer. Wenn ich in der Koje gegen den Stahlrumpf rolle, spüre ich auch hier drinnen die Kälte. Langsam schiebt sich die Europa durch den Lemaire Channel. Ein Friedhof der Eisberge. Die Kolosse werden durch Wind und Strömung hereingepresst. Aber auch das ist keine unüberwindliche Barrikade für den Kapitän. Wo ich nur gefrorenes Wasser sehe, entdeckt er Bruchstellen. Die Bark hat Eisklasse. Die braucht sie in den nächsten zwei Stunden auch. Es ist ein Eisberg-Slalom an der antarktischen Halbinsel zwischen den fast senkrecht abfallenden Felswänden hindurch. Noch vor drei Wochen war dieser elf Kilometer lange Seeweg definitiv unpassierbar.
Klaas probiert es jetzt. Das Ruder gibt er nicht mehr aus der Hand. Wenn wir stecken bleiben, bedeutet das nicht unser Ende, aber einen erheblichen Zeitverlust. Rückwärts geht es hier jedenfalls nicht raus. (…)
Arbeitsplatz Antarktis. Nur etwa fünf Monate im Jahr, von November bis März, ist der Kontinent für Menschen außerhalb der Polarstationen halbwegs erträglich. In dieser Zeit aber sogar mit einer Post, denn Großbritannien betreibt in Port Lockroy eine Forschungsstation mit Briefkasten.
Auch interessant: Wie ich plötzlich vor einem Eisbären flüchtete
Grüße von der Postmeisterin
Eine junge Britin begrüßt uns bei der Ankunft auch gleich mit den Worten: „Ich bin hier die Postmeisterin.“ Mit drei weiteren Frauen verkauft sie auf Goudier-Insel Briefmarken und Souvenirs, zeigt Besuchern die historische Station mit Grammophon. Es ist nicht der bestbezahlteste Job der Welt, lese ich später. 1100 Englische Pfund im Monat – Kälte inklusive. Es gibt kein fließendes Wasser und nur eine Campingtoilette. Kot liegt überall herum – nicht-menschlicher. Tausende Pinguine, die hier wissenschaftlich beobachtet werden, kennen halt kein Klo.
Eine Brotsuppe, Toast. Ein letzter Morgen in der Antarktis. Kapitän Klaas: „Wir gehören hier nicht her. Es ist ein anderer Planet und doch auf unserer Erde. Das ist der Reiz! Die Menschen wollen hierher, solange er in dieser Form noch existiert. Denn die Angst ist da, dass unser Einfluss, die Klimaerwärmung, diesen Ort für immer kaputt macht.“
Auf der Karte ist Deception Island markiertUm 14.05 Uhr gehen wir Ankerauf. Kurs 320. Nach nur zwei Stunden sind wir auf dem offenen Meer. (…) Ich sitze auf dem Klüverbaum, zehn Meter über den Wellen. Abschied vom Eis, der Blick nach vorn. Jeden Tag wird es wärmer. Der Wind – ausgerechnet hier – schläft fast komplett ein. Ist viel zu lau für die Albatrosse und ihre gigantischen Flügel. Wir passieren das berüchtigte Kap Hoorn vierzig Minuten nach Mitternacht. Alles, was wir von diesem magischen Ort wahrnehmen, ist sein in zwölf Seemeilen Entfernung aufscheinendes Leuchtfeuer. Welch unspektakuläre Rückkehr.
Auch interessant: Wie gefährdet ist die Antarktis?
Nach 1727 Seemeilen liegt die Bark Europa wieder im geschützten Hafen von Ushuaia – die letzte Strecke im Beagle-Kanal tatsächlich eskortiert von einer Gruppe Seiwale. Und was in den letzten Tagen in mir mehr und mehr Gestalt annahm, ist spätestens hier Gewissheit: Ich werde zurückkehren!