28. Juli 2022, 8:05 Uhr | Lesezeit: 8 Minuten
„Die wahrhaftige Historia und Beschreibung eines Landes der wilden nackten Menschenfresser, in der neuen Welt Amerika gelegen“ – so heißt der Bericht des Brasilienreisenden Hans Staden. In Deutschland sind er und sein Werk so gut wie unbekannt, obwohl ihn in Brasilien jedes Schulkind kennt. Der Bericht seiner Reise ist bis heute ein einzigartiges Zeitzeugnis, in dem es jedoch auch um einige Verbrechen geht – und um Kannibalismus. Was geschah damals wirklich? TRAVELBOOK geht der Frage in der neuen Folge von „Tatort Reise“ auf den Grund.
„Das Eingeweide essen sie, ebenso das Fleisch vom Kopf. Das Hirn aus dem Schädel, die Zunge und was sie sonst genießen können, essen die Kinder.“
Zitat aus dem Buch zum Kannibalismus. Diese Beschreibung findet sich in der „Wahrhaftigen Historia“, dem Reisebericht des Hessen Hans Staden. Vor mehr als 400 Jahren machte er sich auf eine außergewöhnliche Reise. Sein Ziel sollte eigentlich Indien sein. Stattdessen reiste er zweimal nach Brasilien und hielt sich dort mehrere Jahre auf – teils unfreiwillig. Denn bei seiner zweiten Reise wurde er von einem indigenen Stamm entführt, der anthropophagische Rituale durchführte. Es handelte sich also, laut Staden, um Kannibalen oder wie er sie nennt: „Menschenfresser“. Doch von vorne.
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Ein Hesse geht auf Reisen – und alles geht schief
Hans Staden wird 1525 in der kleinen Stadt Homberg in Hessen geboren. Er wird zum Landsknecht und will, mutmaßlich um Geld zu verdienen, 1548 nach Indien reisen. Doch in Lissabon verpasst er sein Schiff und entscheidet sich schließlich dafür, an einer Expedition nach Brasilien teilzunehmen. Dies führt ihn in den Nordosten des Landes in das heutige Pernambuco. Brasilien befindet sich gerade mitten in der Entstehungsphase. Erste politische Strukturen bilden sich, und Salvador im heutigen Bundesstaat Bahia soll erste Hauptstadt werden. Doch überall sind die Portugiesen mit Widerständen konfrontiert: Nicht nur Indigene greifen die Kolonisten regelmäßig an, auch die Franzosen erkennen die Gebietsansprüche Portugals nicht an und versuchen, Land zu erobern. Das Brasilien Mitte des 16. Jahrhunderts ist geprägt von Scharmützeln.
Und so hat auch Staden schon bei seiner ersten Reise weniger friedvolle Kontakte mit Indigenen und kämpfte an der Seite der Portugiesen gegen die Einheimischen.
Nach dieser Reise tritt der Hesse eine zweite im Jahr 1550 an. Dieses Mal nicht im Dienste der Portugiesen, sondern der Spanier. Das Ziel ist auch nicht Brasilien, sondern die Region des Flusses Rio de la Plata, der das heutige Argentinien von Uruguay trennt. Dort kommt Staden aber nicht an: Zwei Drittel der Flotte des Spaniers Diego de Sanabria, mit dem Staden segelt, gehen unter, Hans Staden strandet vor der Insel Santa Catarina, das heute größtenteils Florianópolis bildet.
Von dort will Staden bis nach São Vicente (wo heute die Stadt Santos liegt) reisen – eine lange, und beschwerliche Aufgabe im damals noch weitgehend unbewirtschafteten Brasilien. Am Ende braucht er zwei Jahre, um zu seinem Ziel zu gelangen. In São Vicente angekommen, wird er von den Portugiesen zum Kommandanten einer kleinen Festung auf der Insel Santo Amaro gemacht – eine Entscheidung mit Folgen, wie sich bald zeigen wird. Denn Staden soll die Festung gegen den indigenen Stamm der Tupinambá verteidigen. Als er eines Tages in den Urwald geht, gelingt es den Indigenen, den Deutschen zu überwältigen und gefangenzunehmen. Die Tupinambá bringen ihn in ihre Siedlung in Ubtatuba, eine Küstenregion im heutigen Bundesstaat São Paulo.
Die Entführung durch die „wilden nackten Menschenfresser“
Nun befindet sich Staden in einer vertrackten Lage. Nicht nur wurde er von einem fremden Volk entführt, sondern auch noch von einem, das ihm wenig wohlgesonnen ist. Denn die Tupinambá sind mit den Franzosen, die sich in Brasilien festzusetzen versuchen, verbündet und betrachten die Portugiesen als Feinde. Und das umso mehr, weil die Portugiesen eine Allianz mit ihren indigenen Todfeinden, den Tupiniquim, geschmiedet haben. Eine komplizierte Situation für Staden, die nichts Gutes verheißt. Denn Staden erfährt bald, was ihm droht, und wie die Indigenen mit ihren Feinden umgehen: Gefangene werden nämlich gegessen – ein grausiges Schicksal, das nun auch Staden droht. Doch er überlebt – und das ganze neuneinhalb Monate lang.
„Dass es ihm gelungen ist, dort nicht umgebracht zu werden, ist erst mal ein Zeugnis seiner großen Intelligenz“, betont Wolfgang Schiffner, Leiter des Regionalmuseums Wolfhagener Land im Gespräch mit TRAVELBOOK. Denn Staden habe sehr gezielt eine sich ihm bietende Chance genutzt. „Nach mehreren Monaten ist eine Seuche ausgebrochen und der Mann, der Staden umbringen sollte, war auch erkrankt und den konnte er ‚heilen‘. Er legte ihm die Hand auf, murmelte ein paar deutsche Gebete und der Mann wurde glücklicherweise wieder gesund – und daraufhin wurde Staden nicht umgebracht.“ Mit der Zeit sei Staden so zu einer Art Schamane geworden und schwebte nicht mehr in Lebensgefahr.
Eine weitere Theorie besagt, dass Staden sich bei seiner Gefangenennahme eingenässt und geweint haben soll, woraufhin die Tupinambá zunächst von der Tötung und anschließenden Verspeisung abgesehen haben sollen. Denn das Essen diente auch dazu, sich die Eigenschaften des Feindes wie Mut, Stärke usw. einzuverleiben. Einen jammernden Angsthasen? Das wollte niemand. Und so könnten die Tupinambá gewartet und darauf gehofft haben, dass sich Staden während der Gefangenschaft noch als mutig erweisen würde.
Wahrscheinlich war es eine Mischung aus mehreren Faktoren, die Staden das Überleben sicherte. Sicher ist: Er wurde schließlich an einen anderen Stamm verschenkt und schlussendlich, nach neuneinhalb Monaten Gefangenschaft, von den Franzosen befreit. Staden reiste zurück nach Deutschland und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1576 in Wolfhagen.
In der „Wahrhaftigen Historia“ wird beschrieben, wie der rituelle Kannibalismus abgelaufen sein soll
„Derjenige, der den Gefangenen erschlagen soll, nimmt die Keule und sagt: ‚Ja, hier bin ich, ich will dich töten, denn deine Leute haben auch viele meiner Freunde getötet und gegessen.‘ Der Gefangene antwortet ihm: ‚Wenn ich tot bin, so habe ich noch viele Freunde, die mich tüchtig rächen werden.‘ Darauf schlägt er dem Gefangenen hinten auf den Kopf, dass ihm das Hirn herausspritzt, und sofort nehmen die Frauen den Toten, ziehen ihn über das Feuer, kratzen ihm die ganze Haut ab, machen ihn ganz weiß und stopfen ihm den Hintern mit einem Holz zu, damit nichts von ihm abgeht.
Wenn ihm die Haut abgeputzt ist, nimmt ein Mann ihn und schneidet ihm die Beine über den Knien und die Arme am Leibe ab. Dann kommen vier Frauen, nehmen die vier Stücke, laufen um die Hütten und machen vor Freuden ein großes Geschrei. Danach trennen sie den Rücken mit dem Hintern vom Vorderteil ab. Das teilen sie unter sich. Das Eingeweide behalten die Frauen. Sie sieden es, und mit der Brühe machen sie einen dünnen Brei, Mingáu genannt, den sie und die Kinder schlürfen.
Das Eingeweide essen sie, ebenso das Fleisch vom Kopf. Das Hirn aus dem Schädel, die Zunge und was sie sonst genießen können, essen die Kinder. Wenn alles verteilt ist, gehen sie wieder nach Hause, und jeder nimmt sich sein Teil mit.“
Diese Beschreibungen und auch die Vergleiche zu heutigen Kannibalen, etwa dem „Kannibalen von Rothenburg“, zeichnen das Bild eines Volks, das wahrhaft grausame Rituale pflegt. Doch wie vertrauenswürdig sind überhaupt die Berichte von Staden bezüglich der Anthroprophagie?
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Was für und gegen den Kannibalismus spricht
Immer wieder wird angezweifelt, dass die Tupinambá ihre Feinde wirklich gegessen haben. Als Grund wird oft künstlerische Freiheit von Staden angeführt. Schließlich hätte sich sein Buch gut verkaufen sollen und Kannibalen waren einst, wie auch heute noch, ein beliebtes Aufreger-Thema. Es liegt also der Verdacht nahe, dass der Kannibalismus schlicht als „Verkaufsanreiz“ verwendet wurde.
Allerdings gibt es auch diverse Anhaltspunkte, die für die Antroprophagie sprechen, so sind die Berichte etwa anatomisch korrekt, obwohl ein medizinisches Grundwissen damals äußerst selten war. Außerdem kann der Bericht generell als authentisch angesehen werden. Zum einen verwendet Staden zahlreiche Begriffe aus der Sprache der Indigenen. Zum anderen lassen sich einige Details des Berichts auch anhand anderer zeitgenössischer Quellen belegen.
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Das Vermächtnis von Hans Staden
Heute ist Hans Staden in Deutschland nur wenigen ein Begriff. Dabei stieß sein Reisebericht zunächst auf großes Interesse: Johannes Dryander, ein Professor und Freund von Stadens Vater, wurde im Jahr 1557 Herausgeber des Buches, das nach damaligen Standards ein wahrer Kassenschlager wurde, wie der Germanist Prof. Jürgen Schulz-Grobert vom „Haus der Geschichte“ TRAVELBOOK bei einem Besuch in Hans Stadens Heimatstadt Homberg (Efze) erzählt. Doch mit den Jahren geriet die Geschichte in Deutschland in Vergessenheit. Nicht so jedoch in Brasilien. Hier stellt die „Wahrhaftige Historia“ bis heute ein wichtiges Werk über das Leben der Indigenen Mitte des 16. Jahrhunderts dar, wurde mehrfach verfilmt und ist als Kinderbuch vielerorts sogar Schullektüre.
Auch in Deutschland versucht man mittlerweile, wieder mehr Aufmerksamkeit auf Staden zu lenken. In Wolfhagen, dem mutmaßlichen Sterbeort von Hans Staden, erinnern eine Ausstellung und eine Statue an ihn. In Homberg bemüht sich Prof. Schulz-Grobert gegen das Vergessen. Damit in Zukunft sich wieder mehr Menschen an den berühmten Brasilienreisenden erinnern, der fast den Kannibalen zum Opfer gefallen ist. Aber eben nur fast…