28. Februar 2024, 17:01 Uhr | Lesezeit: 5 Minuten
Einen „weißen Sandstrand“ assoziieren viele Urlaubshungrige mit einem karibisch anmutenden Fleckchen Erde. Dabei müsste man so weit gar nicht in die Ferne schweifen. Denn in der Toskana gibt es den Strand Rosignano Solvay, auf den die Beschreibung scheinbar zutrifft. Die Erklärung für seine paradiesische Erscheinung ist jedoch allemal irritierend.
Eigentlich komisch, dass so viele Menschen weißen Sand als etwas Schönes empfinden. Denn wie auch TRAVELBOOK bereits berichtete, besteht in den Tropen der Großteil der weißen Strände aus dem Kot von Papageifischen. Beim Abknabbern von Korallenbänken, auf denen sich kleine Algen befinden, nehmen die bunten Meeresbewohner in großen Mengen kalkhaltige Bestandteile auf. Deshalb erscheinen ihre Ausscheidungen als weiß und so auch der Sand. Nun liegt Rosignano Solvay in Vada, also nicht in den Tropen, sondern in der italienischen Region Toskana. Der Grund dafür, dass dort der Sand so auffällig weiß daherkommt, ist ein anderer.
Übersicht
Rosignano Solvay – wo Chemieabfälle den Sand gebleicht haben
Die Gemeinde Rosignano Marittimo – dort befindet sich der beeindruckend weiße Strand – hat einige, doch nicht zu viele Fans. Zumindest ist es dort nicht so überlaufen wie in manch anderem Urlaubsort mit Meerzugang. Die vorhandenen Badegäste könnten das Problem mit bloßem Auge erkennen: dampfende Kühltürme, nur wenige Meter entfernt. Der Strand ist nach dem Industriegelände des Chemiekonzern Solvay benannt, an dessen Standort er sich befindet. Solvay produziert dort Soda, ein Salz der Kohlensäure und auch bekannt als Natriumcarbonat – eine Chemikalie. Dieses Wissen trübt den Badespaß wohl umso mehr, wenn jenes darüber hinzukommt, dass Solvay über Jahrzehnte hinweg seine Abwässer direkt ins Meer kippte.
Vorgänge sind bekannt und geduldet
Industrieabfälle haben den Sand am Strand von Rosignano Solvay ausgebleicht. Ein Skandal, denken Sie jetzt? Tatsächlich ist das Ganze kein Geheimnis. „Seit über einem Jahrhundert verwaltet das belgische Chemieunternehmen Solvay den Standort und hat die Genehmigung, bis zu 250.000 Tonnen Abfälle direkt an den Strand zu pumpen“, heißt es dazu etwa in einer „Reuters“-Meldung aus dem Jahr 2023.
Man müsste sich aber nicht einmal belesen. Strandspaziergänger in Rosignano Solvay könnten etwa an einem künstlichen Graben vorbeikommen, über den eine milchige Brühe aus der Fabrikanlage ins Meer geleitet wird – dank großer Bade- und Liegeverbotsschilder eigentlich kaum zu übersehen. Die Schilder gelten allerdings nur für jeweils 100 Meter rechts und links von diesem Abwasserkanal. Ansonsten ist es quasi überall in Rosignano Solvay erlaubt, ins Wasser zu gehen.
Mehrfach ausgezeichnete Wasserqualität – wie kann das sein?
Die mehr als fünf Kilometer langen Küstenabschnitte in Vada mit ihrem „feinen, hellem Sand und kristallklarem Meer“ seien schon mehrfach mit der Blauen Flagge ausgezeichnet worden. So ist es auf der offiziellen Tourismus-Website der Toskana nachzulesen. Die Blaue Flagge ist ein Gütesiegel für saubere Strände – und verträgt sich eigentlich nicht mit der Einleitung industrieller Abwässer ins Meer.
Der angeblich so saubere Strand wurde vom UN-Umweltprogramm (UNEP) 1999 in die Liste der „Hotspots mit besonderer Umweltverschmutzung“ aufgenommen. Über die Jahrzehnte soll Solvay 330 Tonnen Quecksilber ins Meerwasser geleitet haben. Im Jahr 2017 waren es an chemischen Substanzen konkret ganze 3,88 Tonnen Arsen, 3,7 Tonnen Chrom und weitere Schadstoffe – das kann man im europäischen Schadstoffregister nachlesen.
Trotzdem wollten noch 2022 Tafeln in Rosignano Solvay dem Strand eine „exzellente Wasserqualität“ attestieren, ausgestellt von der toskanischen Umweltbehörde Arpat. Dies berichtete damals etwa die „NZZ“. Bei dieser Bekundung scheint es auf das Kleingedruckte anzukommen. Wie nämlich weiter aus dem Beitrag hervorgeht, wird lediglich das Vorkommen von Mikroorganismen als Qualitätskriterium herangezogen. Spielt die nachweisbare Quecksilberbelastung für die Beurteilung also keine Rolle?
Überwacht werde nur „der Wasserkörper als Ganzes“
TRAVELBOOK hat bei Arpat nachgefragt. Dort erklärt man uns, dass die Umweltbehörde den Zustand sämtlicher toskanischer Küstengewässer überwacht, darunter also auch den in Rosignano Marittimo. „Die Ergebnisse dieser Überwachung beziehen sich jedoch nur auf den Wasserkörper als Ganzes“, so ein wohl nicht unwesentlicher Zusatz, „und nicht auf die spezifischen Auswirkungen einer einzelnen industriellen Tätigkeit, wie sie von der Firma Solvay ausgeübt wird.“ Heißt: Die untersuchten Proben werden nicht an den Einleitungsstellen genommen, sondern an verschiedenen Abschnitten vom Yachthafen Cala dei Medici und dem Wildbach Tripesce, zwischen denen sich Rosignano Solvay erstreckt. Das schränkt ihre Aussagekraft natürlich ein.
Arpat veröffentlicht ökologische Einstufungen für jeweils dreijährige Abschnitte. Die für den Zeitraum zwischen 2019 und 2021 sei nicht so gut gewesen, was damit zusammenhänge – und jetzt kommen wir zum Quecksilber zurück –, dass gewisse Mengen des Schwermetalls sowie des Schadstoffs Hexachlorbenzol in Fischen festgestellt worden waren. „Die vorläufigen Ergebnisse für das erste Jahr des neuen Dreijahreszeitraums (2022) zeigen eine Verbesserung“, heißt es in dem Schreiben an uns weiter, und sie pendelten sich demnach auf einem hohen Niveau ein.
Genauere Informationen dazu seien der Website zu entnehmen. Insgesamt zeigten die Daten, so Arpat abschließend, „dass die in der geltenden Genehmigung festgelegten Grenzwerte im Allgemeinen eingehalten werden“.
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Quecksilber ist für Tiere und Menschen giftig
Es ist gemeinhin bekannt und auch noch mal beim Umweltbundesamt nachzulesen, dass Quecksilber sowohl für Tiere als auch Menschen giftig ist. Und: „Da es vom Organismus schlecht ausgeschieden werden kann, reichert sich der Stoff im Körper an“, erklärt die Behörde. Die Aufnahme kann sowohl über die Nahrung als auch über die Haut und Lunge erfolgen, womöglich mit der Folge von Schädigungen des zentralen Nervensystems. Bis auf Weiteres dürfte es also nicht ganz unbedenklich sein, in Rosignano Solvay baden zu gehen.