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Tourismus-Hotspot in der Nordwestprovinz

Warum man besser nicht in Chinas „schöne neue Welt“ Xinjiang reisen sollte

Xinjiang
Urumqui ist die Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang in der Volksrepublik China Foto: Getty Images
Alexandra Cavelius Freie Autorin

16. Mai 2024, 17:02 Uhr | Lesezeit: 9 Minuten

Um das miserable Image im größten Überwachungsstaat der Welt aufzupolieren und die Verbrechen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zu übertünchen, ordnete Partei- und Staatschef Xi Jinping 2023 an, die Jahrhunderte alte Heimat der Uiguren, Kasachen und anderen muslimischen Ethnien in einen Urlauber-Hotspot zu verwandeln. Geführte Touren durch ein geknechtetes Land sollen ein touristisches Idyll mit Highlights wie der Taklamakan-Wüste, dem Karakul-See oder Oasenstädten entlang der alten Seidenstraße vorgaukeln. Doch die Realität in Chinas „schöner neuer Welt“ in der Nordwestprovinz Xinjiang sieht anders aus.

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Chinas Staatspräsident Xi Jinping war verantwortlich, als Parteikader vor etwa zehn Jahren die „Autonome Uigurische Provinz Xinjiang“ nachweislich mit einem Netz an modernen Konzentrationslagern überzogen zu haben, unter dem Vorwand den islamistischen Terror zu bekämpfen. Seit der gewaltsamen Besatzung unter Mao 1949 hatten sich vereinzelt muslimische Gruppen gegen die Unterdrückung erhoben. „Offiziell sind wir auf dem Papier seither autonom, inoffiziell sind wir ein Volk von Sklaven in einem an Bodenschätzen sehr reichen Land“, sagt die Kasachin Sayragul Sauytbay, Überlebende eines Lagers, der unter Lebensgefahr die Flucht nach Schweden gelungen ist, im Gespräch mit TRAVELBOOK.

Als Sauytbay am Rande des Tianshan-Gebirges 1976 zur Welt gekommen war, gab es dort noch keine Chinesen. Erst durch gezielte Masseneinwanderung hat die KP die muslimischen Ethnien zur Minderheit im eigenen Land gemacht und jeglichen Widerstand im Keim erstickt. „Sogar Messer in unseren Küchen sind festgekettet und mit Chip ausgestattet, damit die Partei überwachen kann, wann und wie oft man sie benutzt“, berichten Zeugen, die heute im Ausland leben. 

Urlauber sollen nach Xinjiang gelockt werden

Menschenrechtsorganisationen sprechen von einer bis drei Millionen inhaftierten Muslimen in der „Autonomen Uigurischen Region Xinjiang“. Ob dort heute nur noch 11 oder 16 Millionen Uiguren leben? Keiner kennt genaue Zahlen, da chinesische Statistiken intransparent sind. Deshalb weiß auch niemand, wie viele Unschuldige die Parteikader bereits getötet haben. Zeugenberichten zufolge werden aber in beinahe jeder muslimischen Familie Verwandte vermisst. Dennoch leugnet die Partei Gewalt gegen Muslime, gleichzeitig liefert sie selbst wiederholt durch geleakte chinesische Staatsdokumente, wie zuletzt die „Xinjiang Police Files“, die besten Gegenbeweise. Im August 2023 forderte Xi bei einem Besuch in Xinjiang gleichzeitig mehr Härte gegen Uiguren und mehr Werbung für den Tourismus. 

Geht das überhaupt in einem Land beispielloser Kontrolle, Zensur und Rechtlosigkeit, in dem jeder Uigure oder Kasache jederzeit enteignet oder verhaftet werden und für immer verschwinden kann? „Man kann ihre Menschenrechte nicht verletzen, denn sie haben keine Rechte“, umschreibt ein leitender chinesischer KP-Beamter in einer WDR-Dokumentation die Situation der Muslime in Xinjiang. Laut chinesischen Behörden sollen trotz der brutalen Unterdrückung allein im vergangenen Jahr 180 Millionen Touristen Xinjiang besucht haben.

Lager wegen Touristen verlegt

Um noch mehr Urlauber in die Nordwestprovinz zu locken, haben die Kader zumindest äußerlich Veränderungen vorgenommen. So schlossen sie zwar manche der sogenannten „Berufsbildungslager“ mitten in den Städten, bauten dafür aber andere am Rande aus und benannten viele Lager in normale Gefängnisse um. Während vorher noch an jeder Straßenecke Polizeistationen standen, wachen dort meist nur noch Überwachungskameras. „Die Lager befinden sich meist an Orten, wo keine Touristen hinkommen“, weiß Sauytbay. 

„Die KP ist sehr geschickt darin, Potem`kinsche Dörfer aufzubauen“, bestätigt auch Dina Nurdybay gegenüber TRAVELBOOK. Die einst erfolgreiche Modedesignerin war im Lager nicht nur Zwangsarbeiterin in einer Nähfabrik, sondern musste auch in einem Propagandafilm der KPCh mitspielen, der in einem Hotel gedreht wurde. Darin sieht man Einheimische in typischen Kostümen, die geschminkt und lachend landestypische Tänze aufführen. In die hingehaltenen Mikrofone der Journalisten musste sie später Sätze sagen wie: „Ich bin sehr dankbar und überaus glücklich, dass die Partei mir diese kostenlose Ausbildung im Lager anbietet.“  Jeder Satz, jedes Komma, jeder Atemzug wurde vorher genau für die Kameras einstudiert. 

Urumqui, Xinjiang
Künstler posieren für Touristen in der Stadt Urumqui Foto: picture alliance / Sipa USA | ChinaImages

„Touristen sehen nur das, was sie sehen sollen“

Keiner wage sich in diesem Land, offen die Wahrheit zu sagen, sagen übereinstimmend Zeugen, denn das führe direkt ins Lager. „Touristen werden in Ostturkestan nur das sehen und das hören, was sie laut der Regierung hören und sehen sollen“, bekräftigt Sayragul Sauytbay, die das Denken der Partei gut kennt, da sie als leitende Staatsbeamtin selbst gezwungenermaßen KP-Beamtin war. „Um uns Dissidenten auch im Ausland mundtot zu machen, benutzt die Partei unsere Verwandten in der Heimat wie Geiseln“, führt Sauytbay aus, „gleichzeitig verfolgen sie uns mit Verleumdungskampagnen, Todesdrohungen und Attentaten.“ 

Nichts überlässt die Partei in Xinjiang dem Zufall. „Wenn beispielsweise eine ausländische Delegation ihren Besuch in Urumqui angekündigt hat, zogen mehrere Polizisten bei uns in die Wohnung ein“, erzählt Zeugin Zumret Dawut aus der Hauptstadt. „Erst wenn die Delegation wieder abgereist war, durften wir wieder vor die Tür.“ Andere Türen vorgesehener Häuser öffnen sich wiederum für Touristen. Da sehen sie beispielsweise uigurischen Frauen in typischer Tracht beim Brotbacken zu. „Unsere Landsleute werden vorgeführt wie Tiere im Zoo“, so Zeugen. Wer das Schauspiel der Partei nicht mitspiele, dem ergehe es schlecht.

Taxifahrer haben Angst, Ausländer mitzunehmen

Möglicherweise wundern sich gelegentlich Touristen, warum manche Taxifahrer Angst haben, sie als ausländische Reisende mitzunehmen. Oder warum sie von der Polizei verfolgt werden. Und warum uigurische Männer keine traditionellen Bärte mehr tragen. Und wieso es überwiegend chinesische, aber kaum uigurische Schriftzeichen in der Heimat der Uiguren gibt. Seltsam auch, dass man kaum junge Menschen auf der Straße sieht. „Viele Jugendliche werden in die Zwangsarbeit ins Inland Chinas verschickt“, berichtet Sauytbay über Zwangsarbeiterprogramme der Partei. Kinder verhafteter Eltern wiederum landen oft in Erziehungsanstalten, wo sie mit Parteislogans und Hass auf ihr Volk und aufs Ausland gedrillt werden. 

„Wer sich nicht assimiliert, wird eliminiert“, fasst Sauytbay das Grauen in Xinjiang zusammen. Übereinstimmend berichten Überlebende in den Lagern unter anderem über Folter, systematische Vergewaltigungen, erzwungene Medikamentengabe oder Hunger. „Das sind unschuldige Menschen in Ketten, mit kahl rasierten Köpfen“, weiß Sauytbay, „sie gleichen einer Kohorte lebendiger Toter.“ Die Jüngste in ihrem Lager war eine Schülerin mit 14 Jahren, die Älteste eine 84-jährige Schafhirtin. 

Ein Ziel der KPCh sei es, die Muslime zu Chinesen und parteitreuen Dienern zu machen, die ihre eigene Kultur, Identität und Sprache leugnen, so Sauytbay. Wer Gott anbete, werde eingesperrt, denn er bete nicht Xi Jinping an und kritisiere damit die Partei. Für Muslime gelte das Gebot ständiger Angst und des Schweigens. 

Warum ist Xinjiang so bedeutsam für die KPCHinas?
1. Es ist sehr reich an Bodenschätzen (z. B. seltene Erden, Baumwolle, Gold, Erdgas, Öl …).
2. Es hat eine bedeutsame geostrategische Lage, grenzt an acht Länder und wird auch „Tor zum Westen“ genannt.
3. Es gilt als Zentrum der „Neuen Seidenstraße“, dem weltweit größten Infrastrukturprojekt; hier fließen die Finanzströme aus anderen Ländern zusammen. Mithilfe dieses Projekts will die KPCh die Weltwirtschaftsmacht erobern.

Urumqui – High-Tech-City und Überwachungsapparat

Vordergründig zeigt sich in der Hauptstadt Urumqui eine High-Tech-City mit Glitzerfassaden und vermeintlich zufriedenen Bürgern, die auf Anfrage meist in typischem Parteisprech „Wohlstand, Harmonie und Stabilität dank der Partei“ preisen. In Wirklichkeit aber leben die muslimischen Ethnien wie in einem riesigen Freiluftgefängnis, auch außerhalb der Lager. 

Um Muslime sogar in den eigenen vier Wänden zu kontrollieren, nutzt die Partei nicht nur High-Tech, sondern auch andere chinesische Bewohner. Von ihnen ziehen einige „Gäste“  jeden Monat für acht bis zehn Tage in deren Wohnungen ein. „Wer deren Wünsche nicht erfüllt, kommt ins Lager“, weiß Zeugin Zumret Dawut. Die uigurische Mutter von drei Kindern durchlitt nach Haft und Zwangssterilisation ständige Panik, da einer der „Gäste“ ein Auge auf ihre zehnjährige Tochter geworfen hatte. 

Damit „das wunderschöne Xinjiang“, wie Xi das bei seinem letzten Besuch in Urumqi 2023 ausgedrückt hat, in seinem schönsten Licht erscheint, investiert die KPChinas nicht nur gewaltige Summen in Desinformationskampagnen, wie aktuell ein Bericht des US-Außenministeriums zeigt, sondern bezahlt auch westliche Influencer dafür, positive Geschichten in den sozialen Netzwerken zu posten. Die KPCh will Xinjiang wie Tibet oder die Innere Mongolei in dasselbe China wie im Inland verwandeln.

Die herausgeputzte High-Tech-City Urumqi
Die herausgeputzte High-Tech-City Urumqi Foto: Getty Images

Auslöschung der ursprünglichen Kultur

Zu dem Zweck hat die Partei die Jahrhunderte alte, faszinierende Kultur der Muslime weitgehend zerstört, Moscheen teils zu öffentlichen Toiletten umfunktioniert und Friedhöfe mit Baggern einplaniert. In der Wüstenoase Kashgar, Wiege der uigurischen Kultur, hatten einst 2000 Jahre alte Lehmziegelhäuser das Bild der Altstadt geprägt. Stattdessen finden sich dort heute Souvenirstände mit buntem Krimskrams „made in China“. Der verbleibende Rest wird für Touristen-Folklore genutzt.

Einerseits schürt die KPCh bereits bei den Kleinsten im Kindergarten ein Feindbild gegen Ausländer und hält die Einwohner dazu an, keine ausländischen Produkte zu kaufen, um China an die Weltspitze zu bringen. Andererseits benötigt die angeschlagene Wirtschaft dringend deren Geld aus dem Ausland. Auch deutsche Reiseunternehmen bieten Touren mit Behörden in Xinjiang an, die direkt mit der Zerstörung des kulturellen Erbes, der Überwachung und Internierung von Uiguren in Verbindung stehen. 

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Ständige Überwachung auch von Touristen

„Wer in diesem Überwachungsstaat sein Geld als Tourist investiert, macht sich zum Komplizen der Verbrechen der Partei und stärkt der Diktatur den Rücken“, sagt Sauytbay. Denn Xi Jinping strebt offen nach einer neuen Weltordnung, die das Ende von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit bedeutet – Seite an Seite mit anderen Diktatoren. Zu diesem Zweck importiert die KPCh auch Überwachungsmethodik und -technik, nach demselben Modell wie in Xinjiang, in andere Länder der Welt wie Russland oder Serbien. 

Wer dennoch nach Xinjiang reist, sollte wissen, dass sein Handy genauso ausgelesen wird wie das der Einheimischen. Mitsamt aller Kontakte und persönlichen Details. Hat ein Uigure zum Beispiel auf dem Handy Kontakte ins Ausland, wird er als Staatsfeind verdächtig. Aus Sicherheitsgründen sollten Touristen auch besser vor Ort keine offene Kritik am System äußern, sonst landen sie womöglich im Gefängnis in Xi`s „wunderschönem Xinjiang“. 

Über die Autorin: Für das Sachbuch „China Protokolle – Vernichtungsstrategien der KPCH im größten Überwachungsstaat der Welt“ (Europa-Verlag) hat Alexandra Cavelius Interviews mit vielen Überlebenden aus Xinjiang geführt, die ins Ausland geflohen sind, und deren zutiefst schockierende Geschichten aufgezeichnet. Mit der preisgekrönten Menschenrechtsaktivistin Sautybay zusammen hat sie die verschiedenen Verbrechen der KP nach jedem Protokoll analysiert.

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